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Situation an Bord der "Lifeline" "Die Riesenangst - wo geht's hin?"

Italien verwehrt dem Rettungsschiff "Lifeline" die Einfahrt in einen Hafen. Die Crew versucht nach Kräften, die 234 Geflüchteten an Bord zu versorgen. Doch die "Situation ist belastend", sagt Helferin Aline Watermann.

Seit zwei Tagen harrt das von einer deutschen Organisation betriebene Flüchtlings-Hilfsschiff "Lifeline" auf dem Mittelmeer aus. Italien und Malta hatten dem Schiff mit mehr als 230 Flüchtlingen an Bord das Anlaufen eines Hafens verweigert, Rom droht sogar mit der Beschlagnahmung der "Lifeline". Im Interview mit dem SPIEGEL berichtet Crew-Mitglied Aline Watermann, zuständig für die Kommunikation mit den Flüchtlingen, von der Rettung, dem Austausch mit den italienischen Behörden und der angespannten Stimmung an Bord: "Viele fürchten, dass sie nach Libyen zurückgebracht werden."

SPIEGEL ONLINE: Wie ist die Rettung abgelaufen?

Aline Watermann: Am 21. Juni haben wir zwischen vier und fünf Uhr morgens zwei seeuntüchtige Boote in internationalen Gewässern gesichtet. Wir haben das der Notleitstelle in Rom gemeldet, sind zu den Booten gefahren und haben 234 Menschen mit Schwimmwesten versorgt und sie an Bord genommen. Später kam auch die sogenannte libysche Küstenwache, aber da war die Aktion bereits beendet. Im Anschluss sind wir Richtung Norden aufgebrochen und zu dem Handelsschiff "Alexander Mærsk" gestoßen, das gerade ein drittes Schlauchboot rettete. Dabei haben wir sie unterstützt.

SPIEGEL ONLINE: Wie geht es den Geretteten?

Waterman: Eine Frau lag im Koma, ist jetzt wieder stabil. Aber das zeigt einfach, dass die Menschen quasi keine Energiereserven mehr haben. Laut Aussagen unseres Arztes sind die meisten an Bord unter- oder mangelernährt und sehr geschwächt.

Zur Person
Foto: Hermine Poschmann

Aline Watermann, 28, ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet als Referentin für Entwicklungszusammenarbeit für das Eine Welt Netz NRW. Sie spricht fließend Französisch, Spanisch und Englisch, außerdem Arabisch. Während der Rettungsaktionen der "Lifeline" ist sie für die Kommunikation mit den schiffbrüchigen Flüchtlingen zuständig.

Außerdem ist es ziemlich heiß, weswegen wir versuchen, mit Planen und Rettungsdecken Schatten zu spenden. Dazu kommt die Enge an Bord. Nachts können alle liegen, aber schon sehr aneinandergedrängt. Tagsüber können sie aufstehen. Und während der Essensausgabe gibt es eine Schlange, da können sie sich ein bisschen bewegen.

SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet es für die Situation an Bord, wenn es so beengt ist?

Watermann: Wir tun unser Bestes. Wir kärchern drei Mal am Tag alle Toiletten, aber es ist nicht optimal. Die Menschen haben schlimme Dinge erlebt. Wir fragen da nicht nach, versuchen den Menschen Ruhe zu gönnen, aber manche erzählen, dass sie vergewaltigt oder misshandelt wurden. Die sind wahnsinnig erschöpft und schlafen seit vier Tagen auf dem Boden. Und manche haben schon fünf Mal versucht, aus den Foltercamps in Libyen rauszukommen und wurden fünf Mal von der Küstenwache wieder zurückgeschleppt. Deshalb ist da auch eine Riesenangst: Wo geht's hin? Seit längerer Zeit fahren wir ja nicht mehr so wirklich, weil wir nicht wissen, in welchen Hafen wir fahren dürfen.

SPIEGEL ONLINE: Der italienische Innenminister Matteo Salvini spricht in Bezug auf die Flüchtlinge von "Menschenfleisch" und weigert sich, einen Hafen für die "Lifeline" zu öffnen. Was bedeutet das für die Menschen?

Watermann: Es ist eine total belastende Situation, nicht zu wissen, warum Europa keinen Hafen öffnet. Vor allem auch, weil viele fürchten, dass sie nach Libyen zurückgebracht werden, was ja einigen, wie gesagt, schon so oft passiert ist. Deswegen kommt auch jedes Mal, wenn wir Essen verteilen, die Frage: "Wann kommen wir irgendwo an?"

SPIEGEL ONLINE: Und was sagen sie dann?

Watermann: Die Wahrheit. Dass das Thema Flucht und Migration in Europa derzeit kontrovers diskutiert wird und aktuell noch kein europäischer Hafen sich bereit erklärt hat. Dass wir uns gedulden müssen und an Lösungen arbeiten. Und dass wir versuchen müssen, die Zeit an Bord so zu gestalten, dass sie für alle erträglich ist.

SPIEGEL ONLINE: Seit zwei Jahren fährt die "Lifeline" unter niederländischer Flagge, doch jetzt dementiert die niederländische Regierung das plötzlich. Salvini bezeichnete die "Lifeline" deswegen als "illegales Schiff" und schreibt: "Es ist klar, dass dieses Schiff dann beschlagnahmt und die Mannschaft festgenommen werden muss." Was ist dran an den Vorwürfen?

Watermann: Ich bin schockiert, dass wir als Abschreckungsbeispiel genutzt werden, an dem Maßnahmen durchdekliniert werden. Gleichzeitig haben wir aus den Niederlanden nie eine offizielle Mail mit den Vorwürfen bekommen. Aber wir sind da auch auf sicherer Seite. Wir haben die Registrierungsdokumente, und die sind ja auch öffentlich einsehbar . Auch die Information, dass wir festgesetzt werden sollen, bekommen wir nur aus den Medien, wenn wir mal genug Internet haben, um sie durchzugucken. Die italienische Regierung hat sich nicht direkt bei uns gemeldet.

SPIEGEL ONLINE: Warum laufen sie nicht Spanien, Libyen oder Tunesien an?

Watermann: Aus Spanien ist bis jetzt kein Angebot gekommen - und die Menschen nach Libyen zurückzubringen ist unter internationalem Seerecht illegal, weil es kein "sicherer Hafen" ist. Menschen mit dunkler Haut werden dort eingesperrt, gefoltert und umgebracht. Schon aus reiner Menschlichkeit ist es unmöglich, die Geretteten dahin zurückzubringen. Was Tunesien angeht: Auch dort ist es nicht sicher, aber die Option besteht derzeit auch gar nicht.

SPIEGEL ONLINE: Am Sonntag ist das Arbeitstreffen der EU zum Thema Migration. Was erhoffen Sie sich davon?

Watermann: Wir handeln ja nicht rechtswidrig, sondern kompensieren, wo Europa seiner Verantwortung nicht gerecht wird. Gleichzeitig ist allen seit geraumer Zeit bewusst, dass es eine dringende Notwendigkeit gibt, eine Lösung zu finden. Es wäre aus meiner Sicht hier an Bord also ungemein wichtig, dass da etwas bei rauskommt.

SPIEGEL ONLINE: Und wenn nicht, wenn sich kein sicherer Hafen findet?

Watermann: Es wird sich ein Hafen finden. Wenn die Europäische Union nicht alle ihre Werte verraten möchte, dann kann es nicht sein, dass sie über einen gewissen Zeitraum hinaus, Menschen in Not und eine zivilgesellschaftliche Organisation hinhält. Und bis dahin werden wir von den anderen Seenotrettungsorganisationen unterstützt. OpenArms rief bald nach der Rettung an und fragte, ob sie uns helfen können, die Aquarius ist zurück in der Seenotrettungszone, Sea-Watch und Sea-Eye sehen zu, dass wir mit Essen und Medikamenten versorgt werden. Wir wissen, dass da viele sind, die uns unterstützen.

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