Menschenschmuggel mit Segeljachten 119 Flüchtlinge an Bord

Flüchtlinge aus Syrien auf der griechischen Insel Kos (Foto aus dem August 2015): Überfahrt auf türkischem Segelschiff
Foto: Yannis Behrakis/ REUTERSDer erste Advent ist ein herrlicher Tag auf der griechischen Insel Lefkada, windstill und sonnig. Im Örtchen Nydri, auf der Ostseite der Insel, hat Jens Jacobsens Jacht festgemacht. Der Pensionär aus Oslo lebt auf einer Bavaria 50, ein komfortables Segelboot aus dem Jahr 2005, 15,50 Meter lang, Marktwert um die 130.000 Euro. Als er am Sonntagmorgen, nach einer Nacht an Land, zurück auf sein Boot will, ist die Jacht verschwunden.
Jacobsens Sohn postet den Diebstahl auf Facebook, bittet Segler nach der "Ananke" Ausschau zu halten. Ein Fischer meldet, er habe gesehen, wie die Jacht in den frühen Morgenstunden abgelegt habe. Ein Skipper glaubt, das Boot nördlich von Korfu gesichtet zu haben, Kurs Albanien. Ein gewöhnlicher Diebstahl? Hundertfach wird der Beitrag in Segelforen kommentiert. Besonders Segler aus Italien vermuten, dass die Bavaria gestohlen wurde, um Flüchtlinge nach Italien zu bringen. In Häfen wie Santa Maria di Leuca lägen bereits etliche Jachten, die für den Menschenschmuggel benutzt wurden.
Dass Flüchtlinge mit Segeljachten an Süditaliens Küste anlanden, kommt immer häufiger vor. Im Sommer 2016 bestätigte die italienische Polizei lediglich "rund 20 Fälle in acht Monaten", in denen Flüchtlinge aus der Türkei oder Griechenland auf einer Jacht eingeschleust wurden. Im August 2019 sagte Francesco Elia vom Marine-Gesundheitsamt in Brindisi der "Tagesschau" , pro Woche kämen bereits durchschnittlich ein bis zwei Jachten mit manchmal 50 oder mehr Flüchtlingen an Bord in seinem Bezirk an.
Der Diebstahl von Segeljachten hat stark zugenommen
Beim Hamburger Unternehmen Marine Claims Service (MCS), das weltweit im Auftrag von Versicherungen nach gestohlenen Schiffen fahndet und eng mit den Behörden zusammenarbeitet, geht man sogar von noch mehr Fällen aus. Verlässliche Zahlen gebe es aber nicht, da der länderübergreifende Datenaustausch bei gestohlenen Jachten nahezu nicht existent sei. "Besonders im östlichen Mittelmeer hat der Diebstahl von Segeljachten zuletzt aber stark zugenommen. Und auch in Frankreich und Spanien werden immer wieder Segelboote gestohlen, um Flüchtlinge nach Italien zu transportieren." Das sagt der Ermittler von MCS, der die Fälle bearbeitet und anonym bleiben möchte. Er kümmert sich auch um die gestohlene Jacht von Jens Jacobsen.
Die Schleuser nutzen Jachten auf zwei Arten, um Flüchtlinge nach Italien zu bringen.
- Sie stehlen Boote. Dann verlassen die Menschenschmuggler meist vor der Küste die Jacht auf einem Beiboot, Flüchtlinge und Schiff werden sich selbst überlassen.
- Sie chartern wie gewöhnliche Touristen in der Türkei und in Griechenland Segelboote. Die Flüchtlinge werden dann in einsamen Buchten mit dem Beiboot an und von Bord gebracht. Die Charterjacht kehrt zurück zur Basis.
Das kriminelle Geschäft ist lukrativ. Nach Aussagen der Flüchtlinge zahlen sie zwischen 3000 und 5000 Euro für eine Passage. Unter Deck kauerten bei größeren Schiffen manchmal bis zu 80 Flüchtlinge, berichtet der Fahnder von MCS. Die Faustformel für solche voluminösen Jachten laute: "Zwei Flüchtlinge pro ein Fuß Bootslänge." So war es auch im Oktober 2016, als eine 60-Fuß-Yacht vor Sizilien auf Grund lief. An Bord befanden sich 119 Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak.
Das Risiko, von der Küstenwache aufgebracht zu werden, ist relativ gering. Die Segelboote fallen kaum auf, zumindest während der Saison. Nur wenn die Jachten wegen der vielen Flüchtlinge an Bord zu tief im Wasser liegen, erwecken sie das Misstrauen der Behörden.
Seit die Balkanroute kaum noch passierbar ist, boomt der Menschenschmuggel über das Ionische Meer. Der kürzeste Seeweg von Griechenland an die Südspitze Italiens beträgt gerade mal 60 Seemeilen, die Überfahrt in einem Segelboot unter Motor dauert keine zehn Stunden. Und sie ist im Vergleich zu einer Fahrt im Schlauchboot deutlich sicherer. Auch bei schlechtem Wetter.
Die Crew setzt sich ab - oder es wird eine Havarie vorgetäuscht
Ein ehemaliger Mitarbeiter einer Charterbasis in Marmaris bestätigt, dass manche Anbieter bewusst wegschauten, obwohl sie wüssten, wofür die Jachten verwendet würden. Aber in Zeiten, in denen viele Touristen dem Land fernblieben, seien sie über jeden Kunden froh. Zumindest, solange die Jachten zurückkehrten.
Aber das ist längst nicht immer der Fall, wie der MCS-Fahnder weiß. Allein diesen Sommer hatte er mehrere Aufträge, verschollene Charterjachten aufzuspüren. Manchmal werde ein Motorschaden vorgetäuscht und das Boot in irgendeinem Hafen hinterlassen. Die Crew setze sich dann ab. Oder es heiße, das Boot sei gesunken.
Dass hinter dem Menschenschmuggel organisierte Banden stecken, sei offensichtlich, sagt der Ermittler. So seien mittlerweile einige Ukrainer identifiziert, die bei etlichen Charterfirmen innerhalb kurzer Zeit Boote gemietet hätten. Eine andere Spur führe nach Sankt Petersburg zu einer Segelschule, bei der die mutmaßlichen Menschenschmuggler alle zur gleichen Zeit ihre Lizenzen erworben hätten.
Wer auch immer Jens Jacobsens Jacht gestohlen hat, der Norweger musste die Hoffnung, sie unbeschadet wiederzubekommen, schnell aufgeben. Bereits einen Tag nach dem Diebstahl zerschellte seine "Ananke" an einem Felsen nahe der italienischen Stadt Santa Maria di Leuca. Die Küstenwache konnte 56 Flüchtlinge - Kurden, Syrer und Iraker, darunter einige Kinder - von der führerlosen Jacht im aufkommenden Sturm bergen. Die Schlepper hatten sich zuvor bereits abgesetzt.