Flüchtlingsdrama in Nordafrika Die Mauer muss weg

Mehr als 6000 Menschen starben in den vergangenen zehn Jahren bei dem Versuch, von Afrika nach Europa zu fliehen. Doch anstatt die Migration human zu gestalten, ruft die EU den Verzweifelten zu: Bleibt bloß zu Hause. Ein Skandal, findet Afrika-Experte Dominic Johnson.

Berlin - Jedes Jahr machen sich in ganz Afrika Zehntausende von Menschen gen Norden auf, mit dem Ziel Europa. Sie durchqueren die Sahara-Wüste auf Lastwagen, sie marschieren Hunderte von Kilometern, sie siedeln sich als Illegale am Rand nordafrikanischer Städte an, und sie warten auf eine Möglichkeit, die Grenzen zu überqueren, die den Armutskontinent Afrika vom reichen Europa trennen. Diese Grenzen sind heute viel mörderischer, als es je der Eiserne Vorhang war, der in Europa Ost und West trennte.

Allein zwischen Spanien und Marokko, auf den Seewegen zwischen den Nachbarländern sowie an den Außengrenzen der beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika, sind nach Angaben der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" in den letzten zehn Jahren 6300 Migranten ums Leben gekommen. Und Tote gibt es auch in den tückischen Mittelmeergewässern südlich von Italien und Malta sowie bei Griechenland. Erst vor wenigen Tagen wurden in den griechischen Gewässern verweste Kinderleichen gefunden, wohl von einem unbemerkt gekenterten Flüchtlingsboot.

Wer es schafft, diese lebensgefährliche Grenze zu überwinden, landet in keinem Paradies. In den Lagern für illegale Einwanderer auf Italiens südlichster Insel Lampedusa, wo allein in den vergangenen zwölf Monaten 15.000 "Boat People" gelandet sind, entdeckten heimlich eingeschleuste Journalisten jetzt Zustände, die sie an die Skandale von Abu Ghureib erinnerten: Lagerinsassen, die gezwungen werden, sich nackt auszuziehen, in Urinpfützen zu sitzen, pornographische Bilder anzugucken. Dazu kompletter Mangel von Rechtsberatung und die klare Ansage, der einzige Weg hinaus führe zurück nach Afrika.

In Melilla und Ceuta werden Neuankömmlinge, die die Grenzzäune überwinden, zuweilen schnurstracks zurückgeschickt, und neuerdings greifen die spanischen Behörden zu einem höhnischen Mittel: Sie fliegen sie auf das spanische Festland - und von dort gleich nach Marokko zurück.

Wenn Ausreise zum Verbrechen wird

Dass Marokko in den letzten Tagen offenbar rund 2000 Illegale in die Wüste deportiert hat, teils ohne Wasser und Nahrung fernab jeder Siedlung zurücklässt, darunter schwangere Frauen und Menschen mit Stacheldrahtwunden von dem vergeblichen Ausreiseversuch nach Melilla, ist nur die Steigerung des Horrors. Marokko schiebt seine Illegalen nach Algerien zurück, Algerien nach Mali - sämtlich über schlecht markierte Grenzen in der Wüste, wo nur Schmuggler die Wege kennen und ein Überleben garantieren. Inzwischen baut Marokko an den Grenzen zu den spanischen Exklaven Mauern, um die Ausreise zu verhindern. Die EU zwingt Afrika dazu, sich zu verhalten wie einst die DDR und der Rest des Ostblocks: Die Grenzen zum reichen Nachbarn werden dichtgemacht, die Ausreise wird zum Verbrechen.

Zu Zeiten des Kalten Krieges feierte der "freie Westen" noch die todesmutigen Flüchtlinge, denen die Überwindung von Mauer und Selbstschussanlagen gelang, als Helden und bot ihnen Hilfe an. Heute verlaufen die Mauern nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Nord und Süd. Der "freie Westen" mutiert zur "Festung Europa", in dem Zugereiste unerwünscht sind. Die Afrikaner sollen zuhause bleiben - das ist die Essenz dessen, was auf europäischer Ebene dieser Tage als neue Afrikapolitik verkauft wird.

Richtig ist der Ansatz, die Ursachen für die Verzweiflung, die Menschen in die illegale Wanderung treibt, an der Wurzel packen zu wollen - falsch und gefährlich ist die Folgerung, man müsse nur etwas "für die Afrikaner" tun, damit man ihnen zukünftig in gutem Gewissen die Reise nach Europa noch konsequenter verwehren kann.

Verlogene EU-Politik

Auffanglager für Flüchtlinge in Tansania, wie die EU sie plant, bieten keinem einzigen Migranten eine Perspektive. Auch Großprojekte in der Infrastruktur, gefördert mit europäischer Entwicklungshilfe, sind kein Allheilmittel, wenn man nicht gleich die Zwangsarbeit mit einführen will. Zwar sind die alten Forderungen von Aktivisten und UN-Experten nach viel mehr Hilfe für Afrika, wie sie dieses Jahr beispielsweise auf Live-8, beim G-8-Gipfel in Gleneagles und beim UN-Millenniumsgipfel immer wieder geäußert wurden, endlich auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Entwicklungshilfe für Afrika soll tatsächlich in den nächsten Jahren massiv steigen.

Aber unter dem Eindruck der Bilder von Melilla gerät das urspüngliche Ziel, die Armut auf der Welt zu verringern, aus den Augen, und die EU stellt ihre als fortschrittlich gepriesene neue "strategische Partnerschaft" mit dem Nachbarkontinent jetzt unter den Gesichtspunkt der Bekämpfung der Ursachen von Migration.

Fortschrittlich ist daran überhaupt nichts. Genausogut könnte man versuchen, das Wirtschaftswachstum durch die Ausmerzung des Unternehmertums anzukurbeln - eine sattsam bekannte Politik aus Europa in den Zeiten des real existierenden Sozialismus. Migranten bringen ihren Heimatländern dreimal soviel Geld wie die staatliche Entwicklungshilfe, haben UN-Experten ausgerechnet; sie sind die Avantgarde der Globalisierung, die Agenten einer kreativen Außenwirtschaft.

Wer Afrika helfen will, muß die Migration fördern, legale Möglichkeiten zum Geldverdienen in der Fremde schaffen, das freie Hin- und Herreisen erlauben und aufhören, Afrikanern auf dem Weg nach Europa die Reise schwerer zu machen als Europäern auf dem Weg nach Afrika. Ganz abgesehen davon, dass die systematische Verweigerung der Reisefreiheit Frustrationen und Feindschaft schürt, die nicht anders als in der islamischen Welt - der überdies halb Afrika angehört - gefährliche politische Konsequenzen haben kann. Wenn die Integration der Türkei in die EU ein Signal an die islamische Welt ist, dass man sie nicht ausgrenzen will, gilt dies genauso für die Staaten Nord- und Westafrikas.

Wut auf die afrikanischen Regierungen

Nach Berechnungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO werden in den nächsten zehn Jahren 300 Millionen junge Menschen auf Afrikas Arbeitsmärkte drängen - höchstens ein Zehntel davon dürfte in der Heimat bezahlte Jobs finden. Den anderen 270 Millionen bleiben als Alternativen Gewalt, Milizen, Kriminalität, Schmuggelwirtschaft - oder Emigration. Oder eben die Perspektive einer selbstbestimmten Zukunft zuhause, die weder von weißen Experten vorgegeben noch von Verboten versperrt ist. Nur wenn die Möglichkeit auch besteht, in die Fremde zu gehen und den Rest der Welt kennenzulernen, wird die Armut in der Heimat nicht mehr als Gefängnis gesehen, aus dem man nur noch entrinnen möchte. In Osteuropa liegt diese historische Erfahrung nur wenige Jahrzehnte zurück, und auch in Westeuropa haben ältere Generationen diese Erfahrung gemacht.

Man darf allerdings nicht vergessen, daß die massive Auswanderung auch in Afrika selbst als Problem gesehen wird. Die Dramen an Europas Grenzen werden in den afrikanischen Herkunftsländern nicht nur mit Wut auf Europa kommentiert, sondern auch mit Wut auf die eigenen Regierungen, die ungerührt zuschauen, wie ihre Bürger sich ins Verderben stürzen. Es war Senegals Präsident Abdoulaye Wade, der vor einigen Jahren das Dilemma auf den Punkt brachte: Europa braucht eine Einwanderungspolitik, sagte er - und Afrika braucht eine Auswanderungspolitik.

Afrikanische Länder müssten selbst definieren, mit welchem Ziel und unter welchen Umständen sie ihre Bürger ziehen lassen wollen. Sonst werde irgendwann Europa einfach selbst die fähigsten Afrikaner absahnen - und den "brain drain" hochausgebildeter Mediziner, Wissenschaftler und diverser Experten in besser bezahlte Positionen in reichen Ländern, der Afrika jetzt schon ausblutet, noch verstärken. Diese Diskussion allerdings kann Afrika nur geeint mit Europa führen. Und die Erfahrungen der vielen Afrikaner, die das Leben in Europa bereits kennen und die Vor- und Nachteile abwägen können, müssten zentral sein bei der Gestaltung jeder zukünftigen europäisch-afrikanischen Partnerschaft. Sonst beschränkt sich Europas Afrikapolitik weiter auf Abschotten, Abschieben und Ausgrenzen - und was wir heute als Ausnahmezustand in Melilla wahrnehmen, wird dann zum Alltag.

Dominic Johnson arbeitet als Redakteur in der Auslandsredaktion der "tageszeitung", taz. Sein Fachgebiet ist Afrika.

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