Kommentar zu Frankreichs Widersprüchen Trauer verdeckt die Risse

Trauermarsch in Rennes, Frankreich, am 11. Januar 2015
Foto: JEAN-FRANCOIS MONIER/ AFP"Liberté, Egalité, Fraternité": Im republikanisch-revolutionären Glaubensbekenntnis steht die Brüderlichkeit an letzter Stelle; die Forderung nach dem konkret gelebten, persönlichen Zusammenhalt wird in den banalen Auseinandersetzungen des Alltags oft verdrängt.
Am Sonntag, dem Tag, der als "Republik-Charlie" gefeiert wurde, war der Schulterschluss der Citoyens eine landesweit gefühlte Realität: Nach der Trauer, den Tränen, ein kämpferisches Bekenntnis des Widerstands, ein Bekenntnis zu den Grundwerten Frankreichs.
Der Gipfel der Brüderlichkeit
Symbolstarke Bilder aus den Metropolen, wo sich schon am Vortag mehr als 800.000 Menschen versammelt hatten. In Paris waren es eine Million Bürger, die vom Monument der Republik zum Trauermarsch aufbrachen. Dazu mehr als 54 Staats- und Regierungschefs. Paris erlebte die größte Kundgebung seit der Befreiung 1945, der "11.1." wird in die Geschichte der V. Republik eingehen als "Gipfel der Solidarität".
Gemeinsamkeit auch mit den Opfern: Mit den ermordeten Redakteuren, den gemeuchelten Polizisten, den niedergeschossenen Juden im koscheren Supermarkt. Am Abend besuchte Präsident Hollande die Große Synagoge von Paris, eine persönliche Geste des Beistands für Frankreichs 500.000 Juden.
Zudem das Bild der Politiker aus aller Welt, die an zweiter Stelle, hinter den Angehörigen der Opfer, beim "republikanischen Marsch" auftraten, ein starkes Signal: Israels Premier Benjamin Netanyahu nur Meter neben Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas, EU-Prominenz neben Führern aus dem Maghreb und Afrika - es war ein "historisches Ereignis".
Die Gräben werden tiefer
Doch danach? Der Moment der Einheit kaschiert nicht nur die gegensätzlichen nationalen Eigeninteressen, auch der Burgfrieden unter Frankreichs Parteien bleibt bestenfalls ein kurzfristiges Phänomen. Trotz der Appelle zur Geschlossenheit werden sich die Gräben zwischen Links und Rechts nur vertiefen.
Mit den brutalen Attentaten der vergangenen Woche, 17 Toten in drei Tagen, hat die Globalisierung des Terrors endgültig Frankreich erreicht. Konflikte fernab, in Irak, Syrien oder Nahost, finden nun ihr mörderisches Echo vor der eigenen Haustür. "Der Feind kommt von außen", warnt Premier Valls, "der Feind kommt von innen."
Der rechtsradikale "Front National" (FN) ist bereits ausgeschert. "Ich bin nicht Charlie" mokierte sich FN-Gründer Jean-Marie Le Pen über die Sympathie-Bekundungen für das Satiremagazin. Und die Opposition nutzt die einsetzende Debatte über Fehler der Geheimdienste zu Angriffen auf die "naive Haltung" der sozialistischen Regierung.
Die Widersprüche liegen tiefer. Das vielbeschworene "Gesicht Frankreichs", die Einheit jenseits der Weltanschauungen, hat trotz der Bekenntnisse zum Widerstand tiefe Fissuren: Zur Disposition stehen das Selbstverständnis Frankreichs, die Identität der V. Republik.
Untergraben ist der Zusammenhalt der Bürger, die trotz verschiedenster Abstammung gemeinsamen Grundwerten verpflichtet waren. In Frage gestellt ist das "Erfolgsmodell der Integration", das wirtschaftlichen Erfolg, Bildungschancen und den Aufstieg im "sozialen Fahrstuhl" miteinander verband.
Rückzug auf religiöse und ethnische Eigenheiten
Mit dem Ende der "dreißig glorreichen Jahre" Anfang der Achtziger erlebte Frankreich die abrupte Wende vom Wirtschaftswunder zur Ära der "gesellschaftlichen Brüche": Die ökonomische Dauerkrise hat diese Gegensätze verschärft, ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und ihren Rückzug auf religiöse oder ethnische Eigenheiten befördert. Der Begriff der "nationalen Identität" - beinahe ein Widerspruch in sich.
Grund genug für Rechte und Konservative, vor einem "Krieg der Zivilisationen" zu warnen, vor Überfremdung und Islamismus. Es sind in Wahrheit Chiffren für die Stigmatisierung von Immigranten oder der Generalverdacht gegenüber Frankreichs Muslimen - ein Rassismus, der so gefährlich ist wie der hasserfüllte Antisemitismus der heimischen Dschihadisten.
Nach den bewegenden Szenen steht Frankreich vor einer historischen Herausforderung, die Generationen beschäftigen wird. Der "11.1." soll der "Tag der Wende" werden, forderten heute Transparente. Dazu muss sich das "Land der Menschenrechte" entlang seiner revolutionären Gebote neu definieren - Brüderlichkeit inklusive.