Friedensforscher Galtung "Wir müssen verstehen, wie Breivik denkt"

Trauernde Kinder in Norwegen: "Ich hoffe, dass in Norwegen Selbstreflexion einsetzt"
Foto: JONATHAN NACKSTRAND/ AFPSPIEGEL ONLINE: Herr Galtung, Ihre 19-jährige Enkelin war auf der Insel Utøya, als der Attentäter Anders Behring Breivik dort mehr als 60 Menschen ermordete....
Galtung: Meine Enkelin war mit Breivik auf der Fähre, als der auf die Insel übersetzte. Als sie auf Utøya ankamen, hat Breivik angefangen zu schießen. Meine Enkelin hat verstanden, dass Flucht die einzige Möglichkeit ist, dass auf der Insel etwas Schreckliches passiert. Zusammen mit einer Freundin hat sie sich dann hinter einem Felsen versteckt. Sie trug eine grüne Regenjacke, vielleicht hat sie die Tarnfarbe gerettet. Breivik stand zeitweise direkt auf der anderen Seite des Felsens. Aber er hat sie nicht gesehen, stattdessen hat er ihre Freunde und Freundinnen erschossen.
SPIEGEL ONLINE: Ganz Norwegen steht unter Schock. Wie geht es Ihnen persönlich?
Galtung: Die Freude darüber, dass meine Enkelin überlebt hat, überwiegt. Aber natürlich empfinde ich Trauer für die vielen Opfer.
SPIEGEL ONLINE: Wann haben Sie erfahren, dass Ihre Enkelin nicht unter den Opfern ist?
Galtung: Sie hat sehr schnell bei ihren Eltern angerufen, ich wusste es dann auch. Sie hat Schreckliches erlebt, aber ich bin ziemlich sicher, dass sie keinen bleibenden psychischen Schaden davonträgt. Sie hat direkt nach der Tat eine E-Mail an Freunde und Verwandte geschrieben und alle dazu aufgerufen, gemeinsam daran zu arbeiten, dass so etwas nicht wieder geschieht.
SPIEGEL ONLINE: Breivik war nach bisherigen Erkenntnissen ein Einzeltäter. Schutz vor so einem Terroristen gibt es nicht.
Galtung. Wir brauchen dringend eine Art Notfallteam, das sich um Menschen wie Breivik kümmert. Menschen, die ihre wahnsinnigen Ansichten im Internet ausbreiten und dort entwickeln. Breivik lebte und arbeitete in Norwegen, aber seine Seele breitete er im Internet aus. Da müssen wir ansetzen. Wir brauchen stärkere Internetkontrollen. Und wir müssen verstehen, wie Leute wie Breivik denken. Die norwegische Polizei, die Sicherheitsdienste haben versagt: Sie haben die Gefahr nicht ernst genommen.
SPIEGEL ONLINE: Wie sollte die Arbeit eines solchen "Notfallteams" aussehen?
Galtung: Die Helfer müssen mit Menschen, die extremistisch denken, in Dialog treten, sie müssen sie im Gespräch herausfordern. Ich selbst habe viel mit Radikalen gearbeitet, mit Rassisten in den Südstaaten der USA, die ähnlich realitätsferne Gedanken hatten wie Breivik. Meine Freunde haben immer gesagt, das bringe doch nichts. Aber das stimmt nicht: Diese Leute wollen, dass man ihre Ideen in Frage stellt, sie lechzen danach, als Gesprächspartner ernst genommen zu werden.
SPIEGEL ONLINE: In vielen Ländern Europas wächst die Macht der Rechtspopulisten...
Galtung: Rechtspopulistischen oder rechtsradikalen Parteien in den Niederlanden, in Großbritannien oder Ungarn, die Breivik ja bewunderte, kann man keine Mitschuld geben. Sie sind verantwortlich dafür, dass Hass gegen Muslime entsteht. Aber sie sind nicht für Breiviks Hass verantwortlich. Seine Weltanschauung, sein Hass auf das angebliche Bündnis aus sozialdemokratischen Multikulturalisten und Islamisten, ist beispiellos. Interessant ist, dass Breivik die Neonazisten in Deutschland und Österreich nicht als Vorbilder erachtet, weil sie antisemitisch sind und Breivik ja Israel liebt. Breivik redet nicht von Rasse, sondern von Kultur.
SPIEGEL ONLINE. Die etablierten norwegischen Parteien verzeichnen seit dem Anschlag enormen Zulauf. Überrascht Sie das?
Galtung: Das Zusammenstehen der Norweger ist nicht Ausdruck besonderer Stärke, sondern eine natürliche sozialpsychologische Reaktion auf einen Angriff. Die Sozialdemokraten wurden angegriffen, die Politik insgesamt - also solidarisiert man sich. Ich hoffe, dass in Norwegen nun auch die Selbstreflexion darüber einsetzt, dass die Gesellschaft endlich ein wirkliches Miteinander der Kulturen lebt, kein multikulturelles Nebeneinander. Muslime sollen zu Gottesdiensten in die Kirchen eingeladen werden, Christen in die Moschee - die beiden Religionen sind der zentrale Punkt, an dem wir ansetzen müssen. Wir müssen das Gute in der jeweils anderen Religion suchen. Dann haben wir die Chance zu beweisen, dass die Geschichte in eine andere Richtung geht, als die Vertreter der Theorie des "Clash of Civilizations" uns das immer glauben machen wollen.