Nobelpreisträger Satyarthi Anwalt der gequälten Kinder

Kailash Satyarthi: In der Tradition von Gandhi
Foto: Bobby Bank/ Getty ImagesZehnjährige, die neun Stunden täglich in einer Fabrik schuften. Elfjährige, die ihr Leben über Gemüse gebückt auf Feldern verbringen. Zwölfjährige, deren Hände vom permanenten Weben bereits narbig sind wie die einer alten Frau: Kinderarbeit ist Indien in allgegenwärtig. 50 Millionen Kinder unter 14 Jahren arbeiteten auf dem Subkontinent, zehn Millionen würden als Sklaven oder in Schuldknechtschaft gehalten, berichtete Kailash Satyarthi 2011 der "Washington Post". Kinderarbeit sei "ein tief wurzelndes soziales Übel", dass nur mit einer starken Organisation zu bekämpfen sei.
Dafür, dass er vor über dreißig Jahren eine solche Organisation gegründet hat, ist dem indischen Kinderrechtler Satyarthi am Freitag der Friedensnobelpreis verliehen worden. Mit 26 Jahren hatte er seine Karriere als Elektroingenieur aufgegeben, um sich ganz dem Kampf für Kinderrechte zu widmen. Seine indische Organisation Bachpan Bachao Andolan (BBA), "Bewegung zur Rettung der Kindheit", hat bis heute Zigtausende Jungen und Mädchen befreit. Viele von ihnen waren von den eigenen Eltern in die Sklaverei verkauft worden.
Die bittere Armut in den strukturschwachen Regionen Indiens zwingt viele Familien, ihre Kinder mit der Hilfe von Schleppern in die Industriegebiete des Subkontinents zu schicken, damit sie dort die Schulden ihrer Eltern abarbeiten. Lohn erhalten sie meist keinen. "Kinderarbeit, Schuldknechtschaft und sogar Kinderprostitution sind überall", berichtete Satyarthi der "Washington Post".
Der 60-Jährige, der stets in indischer Tracht auftritt, wirkt sanftmütig, ist aber eine Kämpfernatur: Bekannte beschreiben Satyarthi als höflich und zurückhaltend, aber auch getrieben. In dem 2005 gedrehten Dokumentarfilm "Gestohlene Kindheit" gibt es eine Szene, in der Satyarthi voller Leidenschaft über die Wissbegier seiner Schützlinge spricht und dann zu einer Trommel greift. Er spielt, die Kinder singen und tanzen: Die Widerstandskraft der Kleinen, die selbst in den schlimmsten Lebensumständen noch einen Grund zum Lachen fänden, hätte ihn stets inspiriert, sagt Satyarthi.
Seine Kampagne für die Rechte der Kleinsten führt der in Neu-Delhi lebende Inder inzwischen weltweit. Satyarthi ist einer der Köpfe hinter dem "Global March against Child Labour", Mitglied von mehreren Bildungskampagnen. Er hat auch ein Zertifikat eingeführt, mit dem Teppichhersteller ihre Waren als "kinderarbeitsfrei" auszeichnen lassen können.
"Kinder sind folgsamer und arbeiten härter"
In seiner Heimat wurde er nach eigenen Angaben mehrfach wegen seiner Arbeit brutal körperlich angegriffen. Das Komitee zur Vergabe des Nobelpreises würdigte denn auch den großen Mut in der Tradition von Mahatma Gandhi, den Satyarthi mit seiner Arbeit bewiesen habe. Der 60-Jährige erhielt bereits viele Preise und wurde unter anderem vom US-amerikanischen Außenministerium als "Held im Kampf gegen moderne Sklaverei" ausgezeichnet.
In Satyarthis Organisation engagieren sich inzwischen nach seinem Vorbild Tausende Freiwillige, um Kindern ihre Kindheit zurückzugeben. Unter den Aktivisten war die Freude über den Nobelpreis am Freitag groß. "Dies ist ein stolzer Moment für jeden Inder", sagte Dinesh Kumar, der Chef der BBA-Landesgruppe im Bundestaat Punjab, gegenüber SPIEGEL ONLINE. "Es ist ein Etappensieg in unserem langen Kampf und eine Niederlage für die indischen Behörden, die das Problem der Kinderarbeit nicht ernst nehmen."
Auszeichnung an zwei Erzfeinde
Denn die Aktivisten stoßen bei ihrer Arbeit oft auf Widerstand von offizieller Seite. Der Kern der Arbeit der BBA ist, Arbeitgeber anzuzeigen, die Kinder beschäftigen. Die Freiwilligen bekommen dabei meist einen Tipp von Informanten, ermitteln und geben ihre Erkenntnisse dann an die Behörden weiter. Doch oft werden die Aktivisten dort abgewimmelt: Nicht selten haben Fabrikbesitzer Schmiergeld bezahlt, um ihre jungen Arbeiter unbehelligt beschäftigen zu können. Können die Freiwilligen die örtlichen Behörden davon überzeugen, aktiv zu werden, begleiten sie die Polizei bei der Durchsuchung der Örtlichkeiten. Die BBA-Leute nehmen sich der befreiten Kinder an und bringen sie in von der Organisation betriebenen Heimen unter.
In dem Dokumentarfilm "Gestohlene Kindheit" wird ein indischer Fabrikbesitzer gefragt, warum er so gerne Kinder beschäftigt: Sie seien folgsamer und arbeiteten härter, antwortet der Mann. Außerdem würden sie sich nicht organisieren und gegen ihre Ausbeutung aufbegehren.
Mit der Auszeichnung für Malala und Satyarthi ging der Nobelpreis aber auch an zwei Erzfeinde: Pakistan und Indien sind schon seit ihrer Gründung verfeindet. In den vergangenen Wochen nahmen die Spannungen zwischen den beiden Nachbarn wieder deutlich zu. Allein im Oktober kamen bei Scharmützeln an der Grenze zwischen den beiden Atommächten neun Pakistaner und acht Inder ums Leben gekommen. Vielleicht lässt die Auszeichnung an zwei ihrer Landsleute die verfeindeten Parteien zumindest einen Augenblick innehalten.