Jahrestag der Annexion Wie die Krim Putin verschluckte

Russischer Präsident Wladimir Putin (2015)
Foto: Sergei Ilnitsky/ dpaKurz vor der Annexion der Krim im März 2014 wagte der russische Oppositionelle Alexej Nawalny eine Prognose über die Zukunft der Halbinsel. Dass sich dort etwas Großes anbahnte, das konnte Nawalny auch aus seinem Moskauer Hausarrest erkennen. Maskierte Bewaffnete - offenbar Spezialkräfte der russischen Armee - waren Ende Februar ins Parlament der Krim eingedrungen und hatten die russische Flagge gehisst. Das Parlament hatte daraufhin ein Referendum angesetzt über den Beitritt zu Russland. Aber würde Wladimir Putin so weit gehen, ein Territorium des Nachbarlandes Ukraine zu annektieren?
Nein, schrieb Nawalny am 12. März in seinem Blog. Eine solche Handlung passe nicht zum russischen Präsidenten. Dieser sei bekannt als listiger Taktiker, der der direkten Konfrontation ausweiche, und deshalb müsse man den Anschluss an Russland als typisch Putin'sche Drohgebärde verstehen. In Wahrheit werde die Krim wohl zu einem weiteren Pseudostaat gemacht, nach dem Vorbild der georgischen Territorien Abchasien und Südossetien.
Sechs Tage später widerlegte Putin in einer Kreml-Rede Nawalnys Prognose. Zur Begeisterung der meisten Russen - und zum Entsetzen des Auslands - verkündete er die Angliederung der Krim und der Hafenstadt Sewastopol an Russland. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg verschob ein europäischer Staat einfach so die Grenzen zu seinen Nachbarn.

Parlamentsgebäude in Simferopol am 19. März 2014
Foto: THOMAS PETER/ ReutersDas ist nun genau fünf Jahre her, und so sehr sich Europa an den Tabubruch gewöhnt hat, so wenig hat es sich von ihm erholt. Es ist lehrreich, sich an Nawalnys Mutmaßungen von damals zu erinnern. Sie zeigen, dass Putin damals selbst seine misstrauischsten Feinde überraschte. Es ist, als hätte Wladimir Putin an jenem Tag nicht nur die europäische Nachkriegsordnung zu Grabe getragen, sondern auch sein altes, vertrautes Ich. Ein neuer Putin trat damals hervor, der nach noch unbekannten Regeln funktionierte. Es war nicht nur für den Westen schwierig, ihn zu verstehen. Auch die Russen tun sich bis heute schwer damit.
Wer weiß, vielleicht war auch Putin von sich selbst überrascht, als er in den Morgenstunden des 23. Februar - so hat er seine Entscheidung später datiert - den Befehl gab, die Annexion vorzubereiten. Es war seine Reaktion auf den Sturz des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch in Kiew. Der russische Präsident ist, anders als sein öffentliches Bild suggeriert, im Grunde ein vorsichtiger Mann. Er scheut Festlegungen und liebt den Mittelweg. Aber wie ein gereizter Kartenspieler, der plötzlich den gesamten Spieltisch umwirft, ließ Putin damals jede Vorsicht fahren und stellte sich selbst ins Abseits.
Putin war fortan ein anderer
Wir wissen im Rückblick nicht, wie weit ihn dieser Ausbruch noch getragen hätte, wäre die Geschichte anders weitergegangen. Es blieb ja nicht bei der Annexion: Die Krim wurde zum Einfallstor, durch das Moskau Krieg und Gewalt in den Donbass trug. Zwischenzeitlich spielte man in der russischen Hauptstadt offenbar sogar mit dem Gedanken, die Ukraine in zwei Hälften zu spalten - mit einem prorussischen Südosten, für den man eine längst vergessene Bezeichnung aus der Zarenzeit reaktivierte: "Neurussland". Es hätte alles noch schlimmer, noch blutiger kommen können. Aber dann erwies sich der Westen als geeinter, die Ukraine als zäher denn erwartet. So ließ sich aus ihr am Ende nur ein kleines Stück Kohlerevier herausbrechen, mit dem Moskau bis heute wenig anfangen kann.
Putin aber war fortan ein anderer, er wollte und musste es sein. Noch während der Konflikt im Donbass weiterschwelte, wandte er sich 2015 mit der russischen Intervention in Syrien dem nächsten Kriegsschauplatz zu, und wieder war das eine Folge der Krim-Annexion. Es ging darum, Moskaus internationale Isolation zu durchbrechen, indem Russland bewies, dass es eine unentbehrliche Macht war. Verblüfft sahen die Russen, wie ihre Luftwaffe ferne Wüstenstädte bombardierte und ihre Flotte Raketen aus dem Kaspischen Meer nach Syrien abfeuerte.
Und so bewegte sich Wladimir Putin Schritt für Schritt von der russischen Innenpolitik weg und hinein in die Weltpolitik. Er wirkt auf die Russen längst nicht mehr wie ein Politiker, der sich um seine Bürger sorgt, er ist jetzt in welthistorischer Mission unterwegs. Er sucht nicht mehr die Anerkennung der Zeitgenossen, ob im Ausland oder daheim. Er denkt jetzt lieber an die Nachwelt. "Russland hat die Krim geschluckt, und die Krim hat Putin geschluckt", so hat es die Politologin Tatjana Stanowaja formuliert.

Feierlichkeiten zum fünften Jahrestag der Krim-Annexion
Foto: STR/ AFPDabei sind die Russen weiter dankbar für die Annexion der Krim. Der 18. März 2014 war für sie ein rauschhafter Moment, der die Nation einte. Putin verglich ihn in seiner Rede mit der deutschen Wiedervereinigung, und auch wenn der Vergleich die Nachbarn empörte, so stimmte er doch in einem Punkt: In der Euphorie, die der Präsident seinem Volk schenkte. Er versöhnte die Russen mit ihrem Nationalstaat, und zugleich bekräftigte er, gegen seine eigene Absicht, den endgültigen Zerfall der Sowjetunion, indem er Russen und Ukrainer einander entfremdete.
Gewohnt, vom Staat betrogen zu werden
Die allermeisten Russen sahen die historische Gerechtigkeit auf ihrer Seite. Dass ihr Staat dabei zugleich Völkerrecht gebrochen, gelogen und betrogen hatte, störte sie nicht. Sie waren es ja gewohnt, selbst vom Staat betrogen zu werden. Die "hybride Kriegsführung" - der verkappte Einsatz von Gewalt, das Streuen falscher Gerüchte, die Arbeit mit Provokateuren - entspricht der hybriden russischen Innenpolitik, in der Demokratie nur imitiert wird. Nur, dass diesmal das feindliche Ausland hereingelegt wurde und die Russen selbst nicht Opfer, sondern Komplizen des Kreml waren. Das erfüllte eine tiefe Sehnsucht danach, sich mit dem Staat zu identifizieren - eine Sehnsucht, die auch viele der kritischen Moskauer verspürten, die noch 2012 gegen Putin auf die Straße gegangen waren.
Aber seit dem euphorischen 18. März 2014 sind Putin und die Russen wieder auseinandergedriftet. Das in Umfragen messbare Vertrauen zu Putin, das nach der Annexion deutlich angestiegen war, ist wieder auf die alten Werte zurückgesunken.
Es geht den Russen in gewisser Weise wie Bundeskanzlerin Merkel, die 2014 frustriert feststellte, Putin lebe "in einer anderen Welt." Es ist, als sähe er sich nicht mehr in der Pflicht, für das Wohlergehen der Russen zu sorgen, und als hätte er mit der Krim-Annexion seine Seite des Gesellschaftsvertrags bereits erfüllt. Der neue Putin rechtfertigt einerseits die Erhöhung des Rentenalters damit, dass kein Geld da sei, und präsentiert andererseits teure Wunderwaffen, die er auf die Vereinigten Staaten richten will. Er schert sich nicht mehr um soziale Fragen.
Und nicht nur Putin, auch der Staat hat sich verändert. Die Rolle des Militärs ist gewachsen. Es hat jetzt eine eigene Jugendorganisation, mit sandfarbenen Uniformen. Der Militärgeheimdienst GRU erstarkte im Vergleich zum Inlandsgeheimdienst FSB, und er brachte einen neuen, draufgängerischen Stil mit. Von der Krim führt eine direkte Linie zur Vergiftung des Ex-Agenten Sergej Skripal im englischen Salisbury: Einer der Hauptverdächtigen war offenbar für seinen Krim-Einsatz ausgezeichnet worden.
Der Staat sieht seine Hauptaufgabe jetzt in der Abwehr echter oder fiktiver Bedrohungen aus dem Westen, nicht in der Förderung seiner Menschen. "Der Staat schuldet euch prinzipiell nichts", so wies jüngst eine schnoddrige Beamtin im Ural Jugendliche zurecht, "schließlich hat der Staat eure Eltern nicht gebeten, euch auf die Welt zu bringen." Die Frau war für Jugendfragen zuständig. Ein Video des Gesprächs machte im Internet die Runde.
"Kein Putin - kein Russland"
Und so ist, während Putin einen Sieg nach dem anderen feiert in seiner welthistorischen Mission, seinem Staat die Zukunft abhandengekommen. Im Herbst 2014, noch im Überschwang der Krim-Euphorie, sagte ein hoher Kreml-Beamter über den Präsidenten: "Solange es Putin gibt, gibt es Russland. Kein Putin - kein Russland." Es war ein absurder Satz. Er klang, als würde sich nach Putins Abtritt ein dunkles Loch auftun.
Aber selbst Putin wird nicht ewig regieren. Es ist überfällig, über die Zeit nach ihm zu sprechen. Aber es ist auch gefährlich, denn der Mythos von Putins Alternativlosigkeit trägt das Regime. Wladislaw Surkow, auch er ein hoher Kreml-Beamter und erfahrener Höfling, hat sich neulich getraut, öffentlich über die Zeit nach Putin zu spekulieren. "Putins langer Staat" heißt sein Zeitungsartikel, und er preist die Vorzüge von Putins jetzigem System gegenüber westlichen Demokratien. Russlands Staat zeichne sich durch seine Transparenz aus - Zwang werde hier nämlich nicht kaschiert wie im Westen, er liege offen zutage. Und alle Einrichtungen des Staates hätten nur eine Aufgabe: Das Volk mit dem "Obersten Regenten", dem "Leader" zu verbinden, dem es einzig vertraue. Diese Vorzüge gelte es zu verstehen und zu bewahren, dann habe das System noch viele Jahrzehnte vor sich.
Es ist die Vision eines Führerstaates, die hier als Russlands Zukunft beworben wird. Sie zeigt, wie die Entfremdung vom Westen - teils gewollt, teils billigend in Kauf genommen, teils erzwungen - das Denken in Putins Führungszirkel verändert hat. Auch das ist eine Spätfolge der Krim-Annexion. Russlands Zukunft ist eingeschnürt in ein enges Korsett. Es ist kein anderer Weg mehr denkbar als der autoritäre. Dass das ausgerechnet ein Mann verursacht hat, der sich ungern festlegen und einschränken lässt, ist eine Ironie, die Wladimir Putin womöglich nicht wird würdigen können.