Menschenrechtsexperte Strässer "Höhere Zäune bekämpfen keine Fluchtursachen"

Migranten an der griechisch-mazedonischen Grenze (Archivaufnahme)
Foto: BULENT KILIC/ AFP
Christoph Strässer, Jahrgang 1949, war zu Beginn der Legislaturperiode zwei Jahre lang Beauftragter für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe der Bundesregierung. Wegen der Unvereinbarkeit seiner Positionen mit den geplanten Verschärfungen der Asylgesetze gab der SPD-Politiker sein Amt dann auf.
SPIEGEL: Herr Strässer, auf dem G20-Gipfel in Hamburg sollte die Afrika-Politik eines der Hauptthemen sein. Tatsächlich fand dieses Thema aber kaum statt. Lassen sich Entwicklungs- und Migrationsprobleme überhaupt auf einem solchen Gipfel lösen?
Christoph Strässer: Wohl kaum. Feste Zusagen gab es immer wieder bei solchen Gipfeltreffen, eingehalten wurden sie nie. Bei der Darstellung der wichtigsten Ergebnisse aus Hamburg fand und findet Afrika schlicht nicht statt. Also alles wie immer: Das Problem wird benannt - nachhaltige Lösungen bleiben auf der Strecke. Wieder einmal wurde über und nicht mit Afrika verhandelt. Für eine wirksame Afrika-Politik ist das kontraproduktiv.
SPIEGEL: Deutschland hat seine Mittel für Entwicklungszusammenarbeit zuletzt aber drastisch erhöht ...
Strässer: Durchaus. Ich habe aber den Eindruck, dass es der Bundesregierung weniger um Entwicklung und Einhaltung von Menschenrechten in Afrika geht, als vor allem um die Verhinderung von Migration.
SPIEGEL: Ist das verwerflich?
Strässer: Wenn die Verhinderung von Migration bedeutet, bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen in Afrika zu schaffen, ist das durchaus gut. Oftmals bedeuten Migrationspartnerschaften aber einfach nur verstärkte Grenzsicherung. Höhere Zäune bekämpfen keine Fluchtursachen. Mit höheren Zäunen kommen zwar weniger Menschen nach Europa, aber nicht wegen besserer Lebensbedingungen in ihrem Land.
SPIEGEL: Die Kanzlerin und gleich vier Ministerien kümmern sich jetzt um die Entwicklung Afrikas. Ist das kein Fortschritt?
Strässer: Migrationspartnerschaften, Reformpartnerschaften, Investitionspartnerschaften - man verliert vor lauter Partnerschaft ja völlig den Überblick. Ich habe zwar kein Problem mit mehr privaten Investitionen in unserer Afrika-Politik. Wir müssen aber wegkommen von einer Wahrnehmung des Kontinents als reines Entwicklungsprojekt. Es kann nicht sein, dass wir uns auf einige wenige Länder konzentrieren, die für uns auf einem guten Weg sind und Reformbereitschaft zeigen. Was passiert mit den anderen Staaten, wo mitunter die viel größeren Probleme zu finden sind?
SPIEGEL: Und der Marshallplan von Entwicklungsminister Gerd Müller?
Strässer: Vieles in dem Plan klingt gut, leider ist nur weniges konkret. Ein Beispiel: Müllers Forderung nach Sonderinitiativen für Entwicklungsprojekte ist nach außen eine gute Idee. Man könnte meinen, der Minister macht sich in den Haushaltsverhandlungen stark. In der Praxis führt es aber dazu, dass für viele Entwicklungsprojekte keine verlässliche Planung mehr möglich ist. Krisenprävention zum Beispiel erfordert regelmäßige finanzielle Zuwendungen über mehrere Jahre. Wenn das nicht gewährleistet ist, macht es keinen Sinn.
"Freihandelsabkommen fördern Migration"
SPIEGEL: Was macht denn Sinn?
Strässer: Ich komme immer wieder zu dem Ergebnis, dass vielen afrikanischen Eliten der Zustand ihrer Gesellschaften völlig egal ist, dass sie die Verfassung zu ihren Gunsten ändern und so gegen ihre eigenen Gesellschaften arbeiten. Natürlich gibt es auch verantwortungsbewusste Eliten in Afrika. Diese, vor allem aber die sich immer stärker zu Wort meldende Zivilgesellschaften müssen wir viel stärker unterstützen.
SPIEGEL: Sind die Freihandelsabkommen (EPAs), die Europa gegenwärtig mit Afrika verhandelt, Segen oder Fluch für die afrikanische Entwicklung?
Strässer: Diese Abkommen befördern aus meiner Sicht die Migration. Vor allem kleineren Volkswirtschaften bieten die EPAs keine Entfaltungsfreiheiten. Die ärmsten Länder werden dadurch noch weiter abgehängt. Die Verträge enthalten zwar gewisse menschen- und arbeitsrechtliche Standards, es gibt aber keine Mechanismen, diese auch zu kontrollieren und zu sanktionieren.
SPIEGEL: Warum nicht?
Strässer: Die Augenhöhe, von der Europa immer spricht, bezieht sich vielleicht auf die Verhandlungen, nicht aber auf die ökonomischen Grundlagen der Partnerländer. Ich kenne kein afrikanisches Unternehmen, das auf dem afrikanischen Markt mit internationalen Unternehmen mithalten kann. Zumindest mittelfristig werden die EPAs die Situation in den Partnerländern nicht verbessern.
SPIEGEL: Wie überzeugend ist die deutsche Flüchtlingspolitik?
Strässer: Ich bin grundsätzlich dafür, Menschen aufzunehmen. Und die Entscheidung der Kanzlerin im Flüchtlingsjahr 2015 war richtig. Was danach geschah, war allerdings weniger überzeugend. Besonders was die Asylgesetzgebung angeht. Ich denke, wir sollten sichere Zugänge zum europäischen Kontinent schaffen, damit Menschen nicht über das Mittelmeer müssen. Es ist ein großer Fehler, dass Deutschland noch immer kein Einwanderungsgesetz hat.
SPIEGEL: Ein Einwanderungsgesetz würde noch mehr Migranten anziehen ...
Strässer: Nein, ein Einwanderungsgesetz bedeutet nicht, dass plötzlich alle Menschen einwandern können. Ich finde das kanadische Modell mit einer Punkteregelung sehr vernünftig: Wer dort eine Ausbildung vorweisen kann, die gefragt ist, hat auch gute Bleibechancen. In der CDU/CSU scheint es dafür aber leider noch immer kein Bewusstsein zu geben.
SPIEGEL: Rechnen Sie mit neuen Massenbewegungen über das Mittelmeer?
Strässer: Die Zahl der Migranten, die in Libyen in die Boote steigen, übersteigt gerade alles Bisherige. Wir wissen, dass allein in Nordafrika rund eine Million Menschen auf eine Gelegenheit warten. Der Großteil der Fluchtbewegung findet immer noch innerhalb Afrikas statt, aber es wird auch weiterhin eine große Zahl von Menschen geben, die Afrika verlassen wollen. Sie fliehen aus einer Situation, in der sie keine Perspektiven haben und die sie nicht selber verschuldet haben.
SPIEGEL: Lässt sich Migration überhaupt stoppen?
Strässer: Nur wenn man die Ursachen wirksam beseitigt. Wir können Mauern bauen, Grenzen neu ziehen, das Mittelmeer besser bewachen - aber diese Menschen werden sich immer auf den Weg machen.
SPIEGEL: Migrationsexperten weisen darauf hin, dass höherer Wohlstand Migration eher befördert als stoppt.
Strässer: Das Argument kommt immer wieder: Familien, die sich eine Flucht leisten können, schicken ihre Söhne los. Das mag so sein, aber es überzeugt nicht. Deswegen können wir doch nicht unsere Hilfe einstellen.
SPIEGEL: Wie reduziert man Migration dann?
Strässer: Es gibt Migration seit Menschengedenken, auch in Europa. Wo würden wir in Deutschland heute stehen, hätte es keine Migration gegeben? Wenn Leute Perspektiven verlieren, wollen sie weg. Das kann man nicht verhindern, ohne schreckliche Bilder in Kauf zu nehmen. Abschottung stoppt keine Migration.