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Libyen ohne Gaddafi: Die Kämpfer fordern ihren Lohn

Foto: Francois Mori/ AP

Gaddafi-Suche in Libyen Auf der Jagd nach einem Phantom

Sitzt Gaddafi in einem Konvoi nach Algerien? Im Jeep gen Tschad, in einer Lehmhütte in Sirt? Libyen rätselt über den Verbleib des Diktators - und bedient sich freimütig an den Luxusgütern der Sippe, auch die Farm Gaddafis wird geplündert. Protokoll einer skurrilen Suche.

Ganz Tripolis sei befreit, heißt es seit Tagen. Fast ganz Tripolis, denn die Elitebrigade 32 unter Kommando des Gaddafi-Sohns Chamis halte immer noch ihr schwer befestigtes Lager am Südrand der Stadt. Nahe der Autobahn zum Flughafen, die ebenfalls noch gefährlich sei. Außerdem liege dort auch die riesige Farm von Gaddafi, wohin er sich schon früher immer gern zurückgezogen habe, und sein Reitclub Furusia.

Eine unheimliche Gegend. Vielleicht sei er ja dort, lautet eines aus dem Strauß der Gerüchte, die ihn wahlweise in einer Mercedes-Kolonne auf dem Weg nach Algerien, im Jeep gen Tschad oder in einer Lehmhütte in seiner Heimatstadt Sirt wähnen.

"Ouein, Ouein" - "Wo, wo" - ist die neue Parole in Tripolis, seit der Sturz des "Bruders Revolutionsführer" nicht mehr gefordert werden muss.

Nur wo ist der Führer? Die Autobahn nach Süden ist leer am Samstagvormittag, unangenehm leer. Der Betonturm des Furusia-Reitclubs ragt zwischen Akazien hervor, wo vor Jahren Gerhard Schröder zu Reiterfestspielen empfangen wurde. Ein einsamer Revolutionsposten hält Wache, von den zwei massiven Bauten ist einer präzise zu einem Trümmerhaufen gebombt worden.

Uniformteile liegen herum, Dutzende Munitionskisten, ein Pferd hat die Kämpfe nicht überlebt, der Kadaver ist bereits so aufgedunsen, dass die Beine in die Luft ragen.

An verlassenen Wachposten vorbei führt die Straße weiter zur einst schwerbewachten Farm. Alles ist ruhig, das Tor steht offen, ein paar Bäume rauschen im heißen Wind. "Hier konnte kein Normalsterblicher auch nur anhalten früher", erinnert sich der Fahrer Nidal und zögert ein wenig, durchs Tor zu fahren: "Und wenn die jetzt doch noch schießen?" Aber da ist keiner mehr. Kilometerweit ziehen sich kleine Asphaltstreifen durch eine etwas verwilderte Farm, aus dem Nichts tauchen fünf große Zelte auf. "Gaddafis Zelt!", ruft Nidal, als beschwöre er einen Geist. Doch drinnen liegen nur umgestürzte Sessel, stehen noch die allgegenwärtigen mannshohen Klimaanlagen, die bei allem Hang zur Folklore nie fehlen durften.

Gaddafi und seine Mutter im Vorzelt

Erst durch eine zweifache Zaunreihe, vorbei an Kameras und weiteren Wachhäuschen, geht es ins Heiligtum, den inneren Bereich. In der Ferne schimmern weiße Kuppeln, auf einem Feldweg steht ein verlassener 740er BMW. Plötzlich kommen ein paar Männer vorbei, die sich als Nachbarn ausgeben und sich sehr für den BMW interessieren. Fahren kann er nicht mehr, hat auch ziemlich viele Einschusslöcher, aber nach einer halben Stunde begegnen uns die Nachbarn beim Herausfahren noch einmal. Diesmal mit einem Transporter.

Auf einem Hügelchen steht ein holzgetäfeltes Einfamilienhaus mit italienischen Möbeln. Etwa hundert Meter weiter stand ein riesiges Festzelt, nun zerbombt, im Eingang liegt scherbenübersät noch ein Porträtteppich Gaddafis. In einem der weißen Vorzelte hängt ein Bild von ihm mit seiner Mutter.

Es ist still, ein paar nervöse Strauße laufen vorbei, die hier gehalten wurden. In der Ferne tuckert jemand mit einem Trecker davon. Noch einmal, einige hundert Meter weiter, taucht ein Lagerhaus zwischen Bäumen auf, bis unter die Decke mit unausgepackten europäischen Designermöbeln und dem Umzugsgut von Saif al-Islam gefüllt, Büchern mit Widmungen, Unterlagen und einem metergroßen, gerahmten Porträt des prominentesten Gaddafi-Sohns. Zwei unwirsche Revolutionäre tauchen in einem Kleinlaster auf und verlangen die Herausgabe eines mitgenommenen Buchs: "Das ist Eigentum des libyschen Volkes!" Zwei Dutzend Kisten mit sowjetischen Raketen, einige halb ausgepackt, liegen im Schatten unter Olivenbäumen hinter dem Lagerhaus.

Popstars der Revolution

Beim Einbiegen auf die Hauptstraße ruft der Fahrer eines vollbeladenen Kleinwagens: "Die haben geplündert, geplündert! Bei den Nachbarn haben sie eingebrochen und Sachen mitgenommen!" Und er selbst? Ach, das sei "von Gaddafi".

Im Viertel Salahedin, auf dem Rückweg in die Stadt, sind von Ferne Schüsse zu hören, rasen die schon vertrauten Pick-ups mit aufmontierten Geschützen oder Maschinengewehren heran. Salve um Salve wird abgefeuert, bis sich herausstellt: Es ist ein Triumphzug. "Wir haben Chamis Lager erobert!", ruft Kämpfer um Kämpfer. Nach ein paar Minuten rasen sie in der Gegenrichtung vorbei, schießen in die Luft und lassen sich gern filmen dabei. Die Popstars der Revolution.

Die 32. Brigade unter Kommando von Chamis al-Gaddafi galt als letzte Bastion der Getreuen im Großraum der Stadt. Doch auf Nachfrage nach den Kämpfen vor der Einnahme der letzten Basis erklärt ein Revolutionär neben seinem schrottreifen Jeep lakonisch: "Gefechte? Nee. Gegen wen auch? Die waren doch schon alle weg." Vielleicht einen, vielleicht zwei Tage zuvor seien die Soldaten einfach verschwunden. Es brauchte nur so lange, bis sich jemand traute nachzusehen, ob noch jemand da sei.

Zwei Drittel des Lagers waren zuvor schon von Nato-Jets zu Schutt gebombt worden.

Die Autos der Gaddafi-Familie sind verschwunden

In den Hallen der unzerstörten Autowerkstatt werden Motoren an einer Rampe auf Lastwagen verladen. Nebenan steht ein rot-weißes altes Cadillac-Cabrio mit Trittbrettchen und Haltegriffen für Leibwächter, offenbar ein Modell für Staatsbesuche. Im Tank steckt noch ein Schlauch, vermutlich vom Versuch, das Benzin abzusaugen. Die abschließbaren Garagen, grün gestrichen und am Boden gekachelt, wo früher die Wagen der Diktatorenfamilie standen, sind leer.

Auf einem vollen Tanklastzug drängeln sich Dutzende mit Flaschen, Eimern, Kochtöpfen, das Benzin fließt in Strömen, läuft allerdings auch in Strömen herunter auf den Boden. Ab und an schießt jemand in die Luft, ein Kämpfer in cooler Pose zündet sich erst mal eine Zigarette an.

"Keine Fotos! Haut ab hier, keine Fotos!", brüllen einige der Plünderer und versuchen, uns wegzuziehen. Andere stellen sich in Pose und gucken ein wenig enttäuscht, dass niemand von CNN da sei. Es hat seit Monaten fast kein Benzin mehr an den Tankstellen von Tripolis gegeben, wo der Liter früher für umgerechnet acht Cent zu haben war. Jetzt kostet er auf dem Schwarzmarkt das 50fache.

Nur die Moschee ist unberührt. Auf eine Tafel hat jemand mit Kreide geschrieben, dass man behutsam miteinander umgehen möge. Einen Kilometer weiter liegen die Leichen der Regimegegner, die noch vor wenigen Tagen erschossen und verbrannt wurden.

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