
Gaddafis Geburtsort Sirt: Kaum noch Stadt, kaum noch Hoffnung
Gaddafis Geburtsort Sirt Leben in einer toten Stadt
37 Tage nachdem er sein Haus verließ, kehrt Muftah Mohamed Adam noch einmal zurück an den Ort, von dem er floh. Er ist gekommen, um ein paar Dinge zu holen, Teller, Schüsseln, Kleider. Sie liegen gestapelt im Kofferraum seines Autos.
Sein Nachbar begleitet ihn an diesem Nachmittag und zwei seiner fünf Söhne. Sie stehen gemeinsam an der Straße von Sirt, der Stadt, in der die Rebellen das letzte Mal kämpften gegen ihren Gegner, den Diktator.
Adam trägt Sandalen und ein langes Gewand. Er hat selbst schon viel gekämpft in seinem Leben, er ist 62 Jahre alt. Als junger Mann kämpfte er als Soldat für sein Land in Somalia, im Sudan, in Ägypten. Er sieht sich um. Er sieht, was Krieg bedeutet. Die Häuser sind zerbombt, verbrannt und menschenleer. Adams Stadt, der Geburtsort Gaddafis, wo die Rebellen den Mann am Freitag wie eine Ratte aus der Kanalisation zogen, ist tot.
Adam hatte im Fernsehen gehört, dass die Rebellen bald auch bis an sein Haus in der Area 2 von Sirt kommen würden. Er nahm seine Familie, sie liefen einfach los, 17 Kilometer hinein in die trockenen Felder. Sie wollten einen sicheren Ort finden. Aber diesen Ort konnten Adam und seine Familie, auch nach dem Ende der Kämpfe, bis heute nicht finden.
Bevor die Plünderer kommen
Sie leben jetzt in einem anderen Haus, das liegt draußen auf dem Land. Es stand leer, sie kennen den Besitzer nicht. Dorthin fahren sie die Sachen im Auto. Einer von Adams Söhnen trägt einen Käfig mit einem gelben Kanarienvogel aus dem Schutt in seinem Haus. "Der Vogel hat es geschafft", sagt Adam. Einige seiner Nachbarn haben es nicht geschafft. "Der Vogel hat Hunger", sagt er. Er stellt den Käfig zu dem anderen Zeug ins Auto. Ein totes Pferd liegt in einer Pfütze.
Die Leichname der Menschen haben sie weggebracht nach Misurata und sie in großen Gräbern begraben. Es kommen auch andere Leute nach Sirt an diesem Tag, ein paar Autos kreuzen über Steine, Scherben, Müll. Sie kommen, um zu sehen, was ihnen geblieben ist vom Leben, sie laden es behutsam auf, bevor die Plünderer kommen.
"Das war das Zimmer der Jungs", sagt Adam, er zeigt sein Haus. "Das war das Zimmer der Mädchen." Er steigt über Matratzen und Fotos, die im Flur auf dem Fußoden liegen, an der Küche vorbei in den nächsten Raum. "Das war das Zimmer von mir und meiner Frau. Es ist einfach." Alles ist einfach, weil alles immer einfach war in Adams Leben. Er bekam zuletzt eine Rente von umgerechnet 40 Euro, er verdiente sich als Fischer etwas dazu. "Hier drinnen war alles grau. Nur draußen ließ Gaddafi manchmal die Fassaden streichen, wenn hohe Gäste in die Stadt zu Besuch kamen." Adam hat nie etwas gehabt von dem Reichtum seines Landes. Ihm selbst hat Sirt keinen Vorteil verschafft. Und trotzdem bleibt er nun der Sohn dieser Stadt, Gaddafis Stadt.
"Ich habe nur ein Haus verloren"
Sirt ist zu einem Symbol geworden, seine Bewohner sind es nun auch, egal, ob sie reich sind oder arm. Das ist der Grund, warum Adam nirgendwo sicher ist. Es ist das Schicksal der Armen aus Sirt. Die Reichen flüchteten ins Ausland, nach Djerba oder Tunis. Die Armen rannten ins Feld.
Zehnmal ist Adams Familie weitergezogen seitdem. Das Haus, von dem sie den Besitzer nicht kennen, ist Station Nummer elf. Was Station Nummer zwölf sein wird, weiß Adam nicht. Er läuft zurück auf die Straße, die Jungs und sein Nachbar steigen ein. Sie halten den Vogel gut fest.
Sie verlassen die Stadt in Richtung Westen, sie biegen ab in einen Sandweg, die Töchter warten schon und Adams Frau. Die Jungs erzählen der Mutter, wie es aussieht an dem Ort, der einmal ihr Zuhause war.
Die Frau bleibt ruhig. Sie nickt stumm. Auch Adam ist ruhig. Er weint nicht. "42 Jahre lang habe ich an keinem Tag wirklich gelacht. Alles war schwarz, traurig." Das alles ist das Ende davon. Er sei alt, sagt Adam. Seine Kinder seien aber noch jung. "Ich habe nur ein Haus verloren." Aus seinem Portemonnaie zieht er, was er noch besitzt, einen alten Fünf-Dinar-Schein, für den er nichts mehr bekommt.
Seine Frau und seine Tochter, die eigentlich Lehrerin ist, backen Brot auf einer Feuerstelle, die Familie trinkt das Wasser aus dem Brunnen, es bereitet ihnen langsam Magenschmerzen. Aber manchmal gibt es einen Stand mit Essen vorne an der großen Straße. "Es ist in Ordnung alles", sagt Adam, er zieht die Brauen hoch in seinem dunklen Gesicht. Nur nachts, sagt er, da sei das anders. Mit der Dunkelheit kommt die Angst. Dann hört Adam die Schüsse aus der Stadt.