Garnisonsstadt Abbottabad Bin Ladens ahnungslose Nachbarn
Als es an der grünen Metalltür klopft, verdreht Mohammed Miraj die Augen. "Schon wieder einer, der vom Dach fotografieren will", sagt er. Er öffnet, aber es ist nur ein Soldat, der vor seinem Haus steht und aus Versehen mit seinem Gewehrkolben gegen die Pforte geschlagen hat. "Sorry, sorry, sorry", sagt der Soldat und zieht die Tür wieder zu. Miraj schüttelt den Kopf. "Verrückt, was hier los ist. Wir sind jetzt weltberühmt."
Doktor Mohammed Narazullah Miraj ist Bürger der Stadt Abbottabad, einem Ort in den Bergen im Norden Pakistans, etwa zweieinhalb Autostunden von der Hauptstadt Islamabad entfernt. Höhe: 1300 Meter, Einwohnerzahl: schätzungsweise knapp 150.000, für pakistanische Verhältnisse also eher eine Kleinstadt. Miraj ist wohlhabend, er arbeitet als Arzt an einem der beiden Krankenhäuser in Abbottabad, aber jetzt ist er vor allem das: ein Mann, der ein dreistöckiges Haus besitzt, nur ein paar hundert Meter Luftlinie von jenem weiß verputzten Gebäude entfernt, in dem ein US-Sonderkommando in der Nacht auf Montag Osama Bin Laden getötet hat. Wenn man aufs Dach steigt, kann man den Tatort sehen.
Direkt gegenüber liegt eine Kaserne, von Mirajs Wohnung blickt man über die mit Stacheldraht bewehrte Mauer, dahinter exerzieren Soldaten. Einige von ihnen schlendern gerade zum Mittagsgebet in die kleine Moschee auf dem Kasernengelände. "Ich gehe dort auch manchmal hin, sie ist für die Öffentlichkeit zugänglich", sagt Miraj und lächelt. "Man wird jedes Mal durchsucht." Aber auch anderswo im Ort gebe es überall Soldaten und Kontrollen, "nicht nur jetzt, weil sie Bin Laden hier gefunden haben", sagt er. "Ganz Abbottabad ist eine große Kaserne, wenn man so will."

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Abbottabad von den Kolonialherren in Britisch-Indien als Garnisonsstadt gegründet, und erster Verwaltungschef des Distrikts Hazara wurde Major James Abbott, nachdem der Ort dann auch benannt wurde. Die Stadt verströmt postkolonialen Charme mit ihrer europäischen Architektur, den großzügigen Bungalows, den breiten Straßen und weitläufigen Gärten, dazwischen aber: überall Kasernenanlagen. Der Mittelpunkt der Armee ist die Militärakademie Kalkul, vergleichbar mit der britischen Offiziersschmiede Sandhurst. Von hier ist Bin Ladens Versteck keinen Kilometer entfernt.
Nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft und der Gründung des Staates Pakistan 1947 entschied sich der junge Staat, Abbottabad als Militärstandort beizubehalten. Der pakistanische Teil der Provinz Kaschmir, um die Pakistan mit seinem Erzfeind Indien drei Kriege geführt hat, beginnt 20 Kilometer westlich. Die Angst der politischen und, vor allem, militärischen Führung Pakistans vor einem indischen Einmarsch ist nach wie vor groß. Weite Teile der Stadt gelten wegen der sensiblen Militäreinrichtungen als Sicherheitsbereich. Ausgerechnet hier also hatte Osama Bin Laden sein Versteck.
"Hier hat die Polizei nichts zu tun"
"So unglaublich finde ich das gar nicht", sagt der Kaufmann Jehangir Khan. "Hier wiegen sich alle wegen der großen Militärpräsenz in Sicherheit, es gab auch noch nie einen größeren Anschlag." Dass es noch kein Attentat gab sei selten für eine Stadt dieser Größe in Pakistan, sagt er. In den vergangenen Jahren haben Extremisten nahezu sämtliche Städte des Landes in Angst und Schrecken versetzt: Selbstmordattentäter sprengten sich in die Luft, Terroristen legten Bomben.
Abbottabad war dagegen eine Insel des Friedens. "Hier hat die Polizei nichts zu tun, weil die Armee alles regelt", sagt Khan. Mehrere tausend Soldaten sind hier stationiert. "Und weil es hier noch keinen Terror gab, kam es so gut wie nie zu Hausdurchsuchungen oder Straßenkontrollen wie in anderen Städten."
Doch in der vorvergangenen Woche gingen Soldaten von Haus zu Haus und befragten die Einwohner, ob ihnen etwas Außergewöhnliches aufgefallen sei und ob sie Gäste hätten. Autos wurden kontrolliert, selbst Gullydeckel geprüft. Grund war die Abschlussfeier eines Kadettenjahrgangs an der Militärakademie. Armeechef General Ashfaq Parvez Kayani, einer der mächtigsten - und am meisten gefährdeten - Männer des Landes, sollte anreisen. Auch Militärattachés aus vielen Ländern waren eingeladen. Kayani hielt eine Rede. Er versprach, die Armee werde den Terroristen "das Rückgrat brechen". Osama Bin Laden saß da wahrscheinlich nur ein paar hundert Meter entfernt in seinem Versteck.
"Wenn die das gewusst hätten", feixt ein Nachbar und schlägt sich lachend auf den Schenkel. Er und die anderen Bewohner der umliegenden Häuser betonen, dass sie Bin Laden nie zu Gesicht bekamen. "Ich habe kaum Erwachsene gesehen, immer gingen ein paar Kinder oder Jugendliche einkaufen", sagt einer. Ein anderer sagt, er habe sich gelegentlich gefragt, wer wohl in diesem großen Haus lebe, und habe die Bewohner für reiche Paschtunen aus Westpakistan gehalten. "Gefragt habe ich sie natürlich nicht. Hier ziehen viele Leute her, weil Abbottabad ein gutes Klima hat und für Leute mit Atemwegsproblemen geeignet ist. Dafür sind wir bekannt. 2005 haben wir Schlagzeilen gemacht, als das schwere Erdbeben in Kaschmir auch Teile von Abbottabad zerstört hat. Aber wegen Osama Bin Laden wollten wir nie berühmt werden."
Die Häuser sind größer und gepflegter als anderswo
Abbottabad gilt mit seinen drei Kirchen und kolonialen Bauten als eine der schönsten Städte Pakistans. Viele Offiziere bleiben nach ihrer Pensionierung gleich hier, die Armee ist größter Grundbesitzer der Stadt und sorgt für Wohlstand im Ort. Die Häuser sind größer und gepflegter als in anderen Städten Pakistans, daher fiel Bin Ladens besonders üppiges Anwesen auch nicht sonderlich auf. Wegen der vielen Schulen ziehen auch Familien gerne hierher.
Auch der Karakorum Highway, der in Rawalpindi nahe der Hauptstadt Islamabad beginnt und knapp 1300 Kilometer weit bis ins chinesische Kaschgar reicht, führt durch Abbottabad. Vor den Anschlägen vom 11. September 2001 bereisten viele ausländische Touristen diese Strecke. Jetzt sind es nur noch pakistanische Touristen, die in der Stadt und in der Umgebung ihr Wochenende verbringen. Die Stadt ist umgeben von grünen Bergen mit Kiefernwäldern, sie liegt in einem Tal mit Obstplantagen, derzeit ist Mispelsaison.
Wegen der Ruhe und des Klimas ist auch Sohaib Athar hierhin geflohen. Der 33-jährige Programmierer lebt in der ostpakistanischen Millionenmetropole Lahore. Dort erreichen die Temperaturen derzeit mehr als 40 Grad. In Abbottabad wollte er entspannen - und wurde kurzzeitig berühmt, weil er über den nächtlichen Hubschrauberlärm und das Feuergefecht twitterte, ohne zu wissen, dass er gerade live von der Kommandoaktion gegen Bin Laden berichtete. Plötzlich verfolgten mehr als 91.000 Internetnutzer seine Meldungen, und er erhielt eine Flut von E-Mails und Anrufen von Journalisten.
"Bin Laden ist tot. Ich habe ihn nicht getötet. Bitte lasst mich jetzt schlafen", tippte er in seinen Laptop.
Am Dienstag hatte er immer noch kein Auge zugetan.