Gaza nach dem Krieg "Wer hat hier gewonnen?"
Was bleibt übrig, wenn ein Mensch von einer Panzergranate getroffen wird? Blut, Gewebe, Knochensplitter, Spritzer an der Wand.
Und Wut.
Mohammed Sadalas Zorn gilt vor allem dem Hamas-Kämpfer, dessen Überreste er in seinem Schlafzimmer fand. Mit einem Kameraden zusammen war dieser in das Haus der Familie Sadala eingedrungen, die geflohen war. Vom Balkon aus nahmen die Hamas-Männer die anrückenden Israelis unter Beschuss. Die feuerten zurück, töteten die Militanten und verwüsteten nebenbei das Haus der zehnköpfigen Familie.

Gaza nach dem Krieg: Ein Leben in Trümmern
Als Vater Sadala am ersten Tag des Waffenstillstands zurückkam, um nach dem Rechten zu sehen, lag sein Besitz in Trümmern: Das Schlafzimmer der kleineren Kinder ausgebrannt, Wohnzimmer, Flure übersät von Einschusslöchern und schwarz vom Ruß des Feuers. Im Schlafzimmer die Toten: Einer war wohl verblutet, den anderen erwischte die Granate.
Neben den Leichen lag das Sturmgewehr, mit dem sie versucht hatten, Panzer aufzuhalten.
"Früher habe ich die Hamas unterstützt, weil sie für unser Land, für Palästina kämpft", sagt Sadala. Die Hamas habe für einen Neuanfang gestanden, für ein Ende der Korruption, die unter der gemäßigten Fatah gewuchert sei wie ein Krebsgeschwür. Bei den Wahlen 2006 hätte die Hamas für den Wandel gestanden, deshalb die Mehrheit, sagt Sadala, der sein Geld als Bauunternehmer gemacht hat. Wild gestikulierend steht der 52-Jährige in den Trümmern seines Schlafzimmers: "Das ist der Wandel, den sie gebracht haben. Wir wurden um 2000 Jahre zurückgebombt."
Durch das Loch, das in der Außenwand seines Hauses klafft, sieht Sadala auf eine Landschaft in Grau und Braun. Hier stand früher ein Stadtteil, sein Stadtteil. Jetzt schlängelt sich eine Sandpiste an Bombentrichtern entlang. Wo einmal die Straßen verliefen, ist nichts mehr zu erkennen. Familien hausen auf den Schuttbergen, die früher ihre Häuser waren. Aus Tüchern und Trümmern haben sie sich Notbehausungen gebaut. Die Unterkünfte stehen neben toten Eseln und Schafen, deren Bäuche sich blähen. Niemand hier hat Zeit, die verwesenden Kadaver zu beseitigen.
Die Leute stehen vor dem Nichts
Die Menschen von Beit Lahia fangen in diesen Tagen wieder bei null an: Kinder laden sich das Holz zersplitterter Bäume auf den Rücken. Ihre Mütter kauern vor Feuern und backen Brot. Junge Frauen schleppen in Benzinkanistern Wasser heran. Nur die Männer stehen wie erstarrt, rauchen, schauen ins Leere. Wie Sadala hatten viele hier ihre Hoffnungen in die Hamas gesetzt - jetzt stehen sie vor dem Nichts, ideologisch wie materiell.
Denn was im Gaza-Streifen in Trümmern liegt, sind nicht nur Gebäude, es ist die Existenzgrundlage Zigtausender Menschen. In arabischen Gesellschaften ist das Haus meist alles, was eine Großfamilie besitzt. Oft sind es mehrere Brüder, die gemeinsam eine Bleibe für alle bauen. Das enge Zusammenleben hat Vorteile: Ist der Hausbau erst abbezahlt, reicht das Einkommen weniger, um Dutzende Menschen durchzufüttern.
Jetzt ist alles verloren.
Nach Angaben der palästinensischen Statistikbehörde wurden mindestens 22.000 private und öffentliche Gebäude beschädigt oder zerstört. Angeblich soll die Hamas angekündigt haben, dass sie besonders schwer getroffenen Familien eine Entschädigung von bis zu 4000 Euro in bar auszahlen wolle. Aber das halten viele hier nur für ein Gerücht.
"Als die Hamas an die Macht kam, hat sie uns mit Lebensmittelpaketen unter die Arme gegriffen", sagt Abu Abed. Die Söhne des 60-Jährigen, alle ausgebildete Krankenpfleger, haben wie viele im Gaza-Streifen schon seit Jahren keinen Job mehr. Nun steht auch Abu Abed vor den Trümmern seines Hauses. Mit vier Generationen seiner Familie hat er hier gelebt; jetzt stehen nur noch die Stützpfeiler des Erdgeschosses. Die israelische Marine hat den Bau gleich zu Beginn des Krieges ins Visier genommen. Denn der weite Blick über Gaza-Stadt und das Meer hätten es zu einem guten Stützpunkt für die Hamas gemacht.
"Ich habe meine Meinung über die Hamas geändert", sagt Abu Abed. "Ich kann keine Partei unterstützen, die einen Krieg führt, der unser Leben zerstört." Besonders schmerzt den Bauern, dass die Hamas den Waffenstillstand auch noch als Sieg verkauft.
"Wer hat hier gewonnen?", fragt er und zeigt mit seinem Stock auf den Schutt, der sein Zuhause war.
Einer seiner Nachbarn mischt sich ein: "Viele sind jetzt gegen die Hamas, aber das wird nichts ändern", sagt er. "Denn wer gegen sie aufsteht, wird getötet." Seit ihrer Machtübernahme ist die Hamas mit brutaler Gewalt gegen Andersdenkende im Gaza-Streifen vorgegangen. Während des Krieges soll sie angebliche Kollaborateure mit Israel exekutiert haben, berichteten Nachrichtenagenturen. Die Schreckensherrschaft werde noch lange anhalten, glaubt der Nachbar, der seinen Namen nicht sagt: "Einen Aufstand gegen die Hamas kann es nicht geben. Es wäre Selbstmord."
Sie schlucken den Zorn über die Hamas runter - aus Angst
Auch andere schlucken ihren Zorn herunter. Hails Haus ein paar Straßen weiter hat nur leichten Schaden genommen. In den Wohnzimmerwänden klaffen ein paar Einschusslöcher, alle Fensterscheiben sind kaputt. Auch Hail stellte nach dem Waffenstillstand fest, dass die Militanten sein Haus als Operationsbasis benutzt hatten. Die Haustür stand offen, im Flur lagen Elektrokabel. Hail ging ihnen nach, sie führten ihn zu einem Nachbargebäude, dass die Hamas anscheinend vermint hatte.
Während der Mittdreißiger noch auf seiner Schwelle saß und überlegte, was nun zu tun sei, kam ein Mann vorbei: Er sei von der Hamas und habe in Hails Wohnung etwas liegen gelassen. Hail ließ ihn durch, der Mann kam mit einer schusssicheren Weste, einer Panzerfaust und Munitionsgurten wieder heraus. Eine Stunde später stand dann ein Kämpfer der Islamischen Dschihad vor der Tür, verschwand auf dem Dach und kam mit Munitionskisten herunter. "Sie haben die Häuser von Zivilisten für ihre Zwecke missbraucht. Das ist nicht richtig", empört sich Hail, um Höflichkeit bemüht.
Im Gegensatz zu vielen ihrer Nachbarn geht es der Familie Sadala vergleichsweise gut: Alle haben überlebt, das Haus könnte man theoretisch wieder in Stand setzen. "Auf keinen Fall", sagt Mohammed Sadala. Was in seinem Schlafzimmer passiert sei, könne kein Putz überdecken. Schlimm sei vor allem, dass er jetzt wisse, wer da bei ihm im Schlafzimmer starb: Bilal Hadsch Ali. Sadala weiß das, weil die Brüder des jungen Mannes vor einigen Tagen bei ihm waren. Sie hätten den Ort sehen wollen, an dem Bilal zum Märtyrer geworden sei. "Ich habe sie zwar reingelassen, aber kaum ein Wort mit ihnen geredet", sagt Sadala.
Mit ihren Handys hätten die jungen Männer Fotos von den Überresten ihres Bruders gemacht. "Aber aufwischen wollten sie sie nicht", sagt Sadala. "Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich hier nie wieder blicken lassen."