Leben im Gazastreifen Raus aus dem größten Open-Air-Knast der Welt

1,9 Millionen Menschen leben im Gazastreifen - unter härtesten Bedingungen. Doch wer raus will, muss teils absurde Bedingungen und Wartezeiten hinnehmen. Für manchen endet die Geduldsprobe tödlich.
Palästinensische Militärs bei einer Parade in Gaza-Stadt

Palästinensische Militärs bei einer Parade in Gaza-Stadt

Foto: SUHAIB SALEM/ REUTERS

Wo befindet sich das größte Gefängnis der Welt? Irgendwo in Indien? China vielleicht? Oder doch in den USA? Alles falsch: Es liegt im Nahen Osten. Fast 1,9 Millionen Palästinenser leben im Gazastreifen abgeschnitten von guter Bildung, angemessener medizinischer Versorgung - oder sogar von Kontakt mit ihren Verwandten. Der Gazastreifen: Manche nennen ihn den größten Open-Air-Knast der Welt.

Die radikalislamische Hamas hat dort das Sagen und ihre Beziehung zu Israel und Ägypten sind miserabel. Das Problem: Ägypten kontrolliert die Grenze bei Rafah im Süden, Israel den Übergang in Norden. Beide sind meist geschlossen. Waren kommen häufig nur durch Schmugglertunnel in das Gebiet, dann allerdings zu hohen Preisen.

Lediglich an maximal drei Tagen in jedem Monat gibt es für die Bewohner zumindest die Chance, ihr Freiluftgefängnis zu verlassen. Diese Öffnungen sind genauso willkürlich wie die Vergabe der Genehmigungen. Tausende haben sich dafür registriert. Doch wer wann rüber darf, weiß vorher niemand so genau. Das ist im besten Fall ärgerlich. Für viele Personen wird die langwierige Vergabe-Lotterie jedoch tatsächlich gefährlich - wenn sie nämlich auf die Behandlung in ausländischen Krankenhäusern warten. Die medizinische Versorgung in Gaza ist, vorsichtig formuliert, rudimentär. Wer jedoch nach Israel, Ägypten oder Jordanien will, braucht Geduld.

Oft reicht auch das nicht, wie im Fall von Feras Mazlum. Zwei Jahre lang versuchte die Familie des kranken Jungen, eine Genehmigung für medizinische Behandlung außerhalb des Gazastreifens zu bekommen. Erst als sich der Zustand des Kindes dramatisch verschlechterte, wurden die Behörden aktiv. Doch zu spät: Nach Angaben der Mutter starb Feras wenige Stunden, nachdem die Erlaubnis endlich erteilt war. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation haben im August 2016 so viele Gaza-Bewohner wie nie einen Antrag auf Behandlung in Jerusalem, dem Westjordanland oder anderswo gestellt.

Zerstörtes Krankenhaus nach israelischem Luftangriff (2014)

Zerstörtes Krankenhaus nach israelischem Luftangriff (2014)

Foto: Lefteris Pitarakis/ AP/dpa

Am israelischen Grenzübergang Eriz gibt es gesonderte Verfahren für Patienten und bestimmte Geschäftsleute. Im besten Fall dauert die Bearbeitung aber mindestens einen Monat, oft lassen die Behörden aber auch gar nicht mehr von sich hören oder lehnen den Antrag aus "Sicherheitsgründen" rundheraus ab. Diese Gründe können konstruiert wirken: Wenn etwa ein Familienmitglied vor vielen Jahren einmal mit bewaffnetem Kampf in Verbindung gebracht wurde. Oder wenn ein Angehöriger bei einem israelischen Luftangriff gestorben ist - und dem Antragsteller nun Rachegelüste unterstellt werden.

Eine Ausreise ist praktisch nur auf dem Landweg möglich, nachdem der erste und einzige internationale Flughafen des Gazastreifens schon in den frühen Nullerjahre durch israelische Kampfflugzeuge und später auch Bulldozer zerstört wurde.

Viele sind arbeitslos, die meisten unterversorgt

Auch auf See sind die Grenzen eng gesetzt. Obwohl ein Abkommen eigentlich eine 20-Seemeilen-Zone garantiert, in der palästinensische Fischer arbeiten dürfen, sieht die Realität anders aus. Israelische Marineeinheiten haben den Radius de facto auf nur sechs Seemeilen begrenzt - Hunderte von Fischern können mit dieser Einschränkung kaum noch ihrem Job nachgehen.

Palästinensische Fischerboote

Palästinensische Fischerboote

Foto: Adel Hana/ AP

Und so müssen sich viele Menschen im Gazastreifen auch in Zukunft - eine Verbesserung der politischen Lage ist derzeit nicht absehbar - mit den harten Lebensbedingungen arrangieren. Drei militärischen Auseinandersetzungen mit Israel binnen sechs Jahren etwas, mit insgesamt Hunderten Toten. Mit einer Arbeitslosenquote von rund 50 Prozent, ständiger Unterversorgung und wachsender Selbstmordrate. Es gibt ein Sprichwort im Gazastreifen: "Du siehst den Wärter zwar so gut wie nie, aber du merkst jeden Tag, dass du im Knast sitzt."

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