Gefangenenaustausch Israelis beklagen Triumph der Hisbollah
Sie sind gekommen, um nach zwei Jahren des Wartens endlich Gewissheit zu haben. Nachbarn, Anwohner, Kibbuzim aus der Umgebung - ein paar Dutzend Israelis haben sich an diesem Mittwoch an der letzten Tankstelle vor dem Libanon versammelt. Von hier führt die Straße noch ein paar Kilometer den Hügel hoch, auf dessen Kamm die Grenze liegt.
Sie wollen mit eigenen Augen sehen, wie Ehud Goldwasser und Eldad Regev heimkehren. Tot oder lebendig - im Austausch für 200 tote Hisbollah-Kämpfer, den Mörder Samir Kuntar und vier andere gefangene Libanesen, deren Freilassung im Libanon umgehend mit Jubelfesten gefeiert wurde.
Und sie wollen wissen, ob die Aktion diesen Preis wert ist.
Zum Übergang Rosch Hanikra ist kein Durchkommen, schon drei Kilometer vorher regelt das Militär an Straßensperren den Zugang - nichts soll den Gefangenenaustausch mit der libanesischen Hisbollah-Miliz am Checkpoint stören, der in der Ferne zu sehen ist. "Udi und Eldad werden diese Straße nehmen", sagt Nili, 38, die mit Avital wartet. Sie haben die Kinder dabei und ein halbes Dutzend israelischer Fahnen. "Sie sind für den Davidstern in den Krieg gezogen. Der Davidstern wird sie willkommen heißen, wenn sie nach Hause kommen."
Zwei Jahre lang hatten die Familien Goldwasser und Regev, hatte ganz Israel gehofft, die beiden am 12. Juli 2006 von der Hisbollah verschleppten Soldaten lebend heimkehren zu sehen. Doch zuletzt war durchgesickert, dass zumindest einer die Kommandoaktion gegen ihre Einheit vermutlich nicht überlebt hatte so wie acht Kameraden, die bei dem Angriff umkamen.
Die Hisbollah trieb bis zuletzt ein Spiel mit der Frage nach Leben oder Tod der beiden Soldaten. Es war Psychoterror. Der Hisbollah-Unterhändler triumphierte noch bei der Übergabe im Beisein peinlich berührt dreinblickender Repräsentanten des Roten Kreuzes: "Wir haben es bis zum Schluss geschafft, im Unklaren zu lassen, ob die Soldaten noch leben." Dann öffneten sich die Heckklappen zweier Pickup-Trucks, mit denen die Delegation der Terrororganisation zum Austausch vorgefahren war. Erst zogen Hisbollah-Männer einen schwarzen Sarg heraus. Dann, nach einer Art Kunstpause, den zweiten.
Nasrallah und Libanons Staatsspitze feiern die Freilassung
Die Begebenheit offenbart das Dilemma, in dem Israel steckt. Darf man sich einem Feind wie der Hisbollah und ihrem Anführer Scheich Nasrallah so weit beugen? Wie wichtig ist das eherne Prinzip wirklich, dem zufolge israelische Soldaten um fast jeden Preis nach Hause geholt werden - ob lebendig oder im Sarg?
Die Debatte drehte sich um Moral und um die Motivation der Soldaten, die nach Ansicht vieler Israelis auch deshalb voller Kampfesmut in den Krieg ziehen, weil sie wissen, dass selbst ihre Leichen nicht zurückgelassen werden.
Letztlich aber kulminierte die Debatte immer wieder in einer Frage: Darf man einen Mörder, einen Terroristen wie Kuntar freilassen, nur damit zwei Israelis ordentlich bestattet werden können?
Der Libanese Kuntar war 1979 nach Nordisrael eingedrungen, hatte einen Polizisten und einen jungen Vater und dessen vierjährige Tochter brutal getötet. Zu 524 Jahren Haft wurde er für seine Untat verurteilt. Am Nachmittag wurde er mit den vier weiteren Libanesen in sein Heimatland überstellt, als freier Mann, und ließ sich dort als Held feiern. Er zeigte das Victory-Zeichen ("Ich bin froh, wieder zu Hause zu sein"), Hisbollah-Reiter empfingen ihn hinter der Grenze. Die Staatsspitze in Beirut empfing die Freigelassenen. "Eure Rückkehr ist ein Segen für uns alle", sagte Präsident Michel Suleiman. Nasrallah begrüßte die fünf vor Zehntausenden jubelnden Menschen mit Handschlag, umarmte und küsste sie, rief, die Zeit der Niederlagen sei vorbei - jetzt sei die Zeit der Siege gekommen. Und Kuntar kündigte an, den Kampf gegen Israel fortzusetzen.
Der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert, der am Abend mit Hinterbliebenen an den Särgen der beiden israelischen Toten trauerte, ließ die Feiern im Libanon mit dem Satz kommentieren: "Wehe einer Nation, die die Freilassung eines 'menschlichen Tieres' feiert, das den Kopf eines vier Jahre alten Mädchen zerschmettert hat." Olmerts Sprecher fügte hinzu, wer den brutalen Kindermörder als Helden feiere, "tritt die grundlegenden Werte des menschlichen Anstands mit den Füßen".
"Dieser Deal wird zu neuen Geiselnahmen führen"
Es sind die Triumphbilder aus dem Libanon und der zynische Umgang der Hisbollah mit den Leichen, die viele Israelis am Sinn der Aktion zweifeln lassen. "Dieser Austausch ist grundfalsch, er ist ein Symbol für Israels wunden Punkt", sagt die Kindergärtnerin Merav, 32, die sich bei Rosch Hanikra vor dem Fernseher in einem winzigen Tankstellen-Café drängt. "Heute ist der Tag, an dem Nasrallah endgültig den Krieg gewonnen hat." Alle am Tisch nicken. "Sie entführen, dann fordern sie einen immens hohen Preis. Und wir geben ihnen alles, was sie wollen."
Natürlich sei sie froh, dass die beiden Soldaten heimkommen, schon wegen der Familien, sagt Merav. "Doch der Deal wird böse Folgen haben. Er wird zu neuen Geiselnahmen führen." Die Hisbollah habe bestätigt bekommen, dass Israel bereit ist, einen hohen Preis zu zahlen - und "der Preis wird in der Zukuft noch höher sein".
Gerade der Umgang mit Kuntar zeigt, wie tief gespalten die israelische Gesellschaft ist. Smadar Haran verlor in der Schreckensnacht 1979 nicht nur ihren Ehemann und ihre Tochter. Beim Versuch, ihre zweite Tochter in ihrem Versteck zum Schweigen zu bringen, erstickte sie diese versehentlich. Durch Kuntar verlor sie ihre gesamte Familie - und trotzdem hat sie sich in den vergangenen Wochen für dessen Austausch gegen Goldwasser und Regev ausgesprochen. "Kuntar ist nicht mein persönlicher Gefangener", sagte die Frau. Sie hat wieder geheiratet und mit ihrem zweiten Mann ebenfalls zwei Töchter.
Anders die Angehörigen des Polizisten Eliyahu Schahar, der von Kuntar erschossen wurde. Bis zuletzt kämpften sie gegen den Austausch, beschworen Politiker und Öffentlichkeit, der Mörder müsse für seine Verbrechen "im Gefängnis verrotten". Noch am Dienstag reichten sie ein Gesuch beim obersten Gerichtshof ein, um den Deal zu stoppen. Vergeblich. Am Dienstagabend unterschrieb Präsident Schimon Peres Begnadigungsurkunden für Kuntar und die vier anderen Libanesen.
Neuer Kodex für künftige Entführungen
Das israelische Militär hat den Austausch "Moralische Überlegenheit" getauft. "Das ist ja schön und gut, dass wir uns moralisch höherwertig fühlen, wir sind es mit Sicherheit", sagt Merav. "Aber innen drin in jedem einzelnen, da spüren wir ...", sagt sie und presst ihre Hände mit den langen Kunstfingernägeln. Letztlich sei der Anspruch, jeden nach Hause zu bringen, vor allem eine sentimentale Angelegenheit: "Wir können uns das nicht leisten."
Dass es nicht weitergehen kann wie bisher, dieser Ansicht ist zum Beispiel auch Verteidigungsminister Ehud Barak. Der Inlands- und der Auslandsgeheimdienst hatten ihn aufgefordert, sich dem Deal zu widersetzen - weil er nur neue Entführungen provozieren werde. Nach einer Krisensitzung mit dem Generalstab gab er vor zehn Tagen dann den Auftrag, neue Richtlinien für die Rückholung lebender und toter Israelis zu entwickeln. Immer mehr Soldaten nehmen die Dinge inzwischen selbst in die Hand. Diese Männer und Frauen unterschreiben Testamente, in denen sie festlegen, dass im Fall ihres Todes ihre Leichen nicht gegen Gefangene ausgetauscht werden sollen.
Bei Goldwasser und Regev war es Druck der Öffentlichkeit, der die Regierung zu dem ungleichen Austausch zwang. Der Dank der Familien galt denn auch am Mittwoch explizit nicht den Politikern. "Ich danke dem Volk Israel, dass es dies möglich gemacht hat", sagt Eldads Vater Zvi Regev an diesem Mittwoch.
Die Goldwassers und Regevs beschwerten sich immer wieder, die Regierung habe sie lange allein gelassen und ihnen den Zugang zu wesentlichen Informationen verwehrt. "Wir werden reden und darüber erzählen, wie schlecht die Dinge gehandhabt wurden - wenn auch Gilad Schalit frei ist", hat Ehuds Vater Schlomo Goldwasser vor zwei Wochen gesagt.
Schalit ist seit dem 21. Juni 2006 Gefangener der Hamas im Gaza-Streifen. Derzeit sind die Verhandlungen über seine Rückkehr unterbrochen.