Geisel-Befreiung Experten vermuten Gas-Experiment
Moskau - Noch immer ist vollkommen unklar, welche Art von Betäubungsgas bei dem Sturm auf das Theater in Moskau eingesetzt wurde. Die Behörden schweigen eisern, folglich gibt es reichlich Spekulationen. Für ihr Schweigen haben die Behörden auch schon einen guten Grund gefunden: Es sei zu verhindern, sagten hohe Beamten anonym, dass sich andere Terroristen durch die Preisgabe von zu vielen Einsatzdetails in Zukunft besser auf ihre Aktionen vorbereiten können. Mit diesem "Totschlag-Argument" werden die Offiziellen auch weiterhin jegliche Aufklärung der Vorgänge vom Samstagmorgen verhindern, schätzen russische und internationale Journalisten in Moskau. Auch eine offizielle Anfrage der US-Botschaft nach Einzelheiten wurde bisher nicht beantwortet.
Chemiewaffen-Gegner sehen hinter der Schweigetaktik der Russen ein Kalkül. So vermutet der deutsche Vertreter des "Sunshine-Projects", Jan van Aken, dass die Russen schweigen, weil sie verbotene Stoffe benutzt haben. Van Aken setzt sich seit Jahren gegen die weitere Herstellung und den Verkauf von chemischen Waffen ein.
Spekulationen über mögliche Stoffe gab es Montag reichlich. Die russische Zeitung "Gazeta" berichtete, möglicherweise hätten die Behörden den Stoff Trimethylphentanil eingesetzt. 24 Stunden vor der Aktion hätten Mediziner "in Zivil" in den Moskauer Krankenhäuser dafür gesorgt, dass die Vorräte an Naloxon und Nalorfin erhöht wurden. Dies hätten Ärzte aus den Krankenhäusern berichtet. Beide Stoffe gelten als Gegenmittel für Trimethylphentanil, das ebenfalls zum Strecken von Heroin benutzt würde, so die "Gazeta".
In Ermangelung von Fakten erging sich am Montag so manche russische Zeitung in verschwörerischen Andeutungen. Die russische Zeitung "Kommersant" schrieb, die eingesetzte Spezialeinheit "Alfa" hätte in seinen Beständen gar kein Gas, das Menschen so schnell betäuben und auch vergiften könnte. Die Zeitung hat jedoch auch keine Informationen über die benutzte Substanz. Man dürfe keinesfalls ausschließen, dass die getöteten Geiseln Opfer eines Tests im Kampf gegen den weltweiten Terrorismus geworden seien, so die leicht krude "Kommersant"-Überlegung.
Die russischen Behörden hatten am Sonntag eingestanden, dass 115 der 117 getöteten Geiseln an den Folgen der Betäubung durch ein nicht näher definiertes Gas gestorben seien. Offiziell haben die Ärzte auf den Totenscheinen bisher Herz- und Kreislaufversagen angegeben. Die hiesigen Ärzte, welche die beiden deutschen Opfer in München betreuen, sagten, dass sie die eingesetzte Substanz nicht mehr erkennen könnten. Der Münchner Toxikologe Thomas Zilker sagte aber, dass keine Nervenkampfstoffe eingesetzt worden seien, da er diese im Körper der Opfer nachweisen könne.
Kampfstoff aus den Sechzigern?
Sicher ist laut Zilker nur, dass es sich um ein Narkosegas gehandelt habe, ohne dass genauere Angaben dazu möglich seien, sagte Zilker. Er fügte hinzu, dass auch solche Stoffe tödlich wirken könnten, da sie entweder eine Atemlähmung hervorrufen könnten oder die Opfer letztlich an Erbrochenem ersticken. Andere Kenner der Materie bestätigten, dass Rückschlüsse auf solch ein Narkosegas aus chlorierten Kohlenwasserstoffen mittels Blutuntersuchungen nicht möglich seien.
In Moskau wurden unterdessen die ersten Geiseln aus den Krankenhäusern entlassen, viele der Angehörigen dürfen jedoch immer noch nicht in die Kliniken. Bei mehr als 40 Menschen soll der gesundheitliche Zustand sehr kritisch sein. Der überwiegende Teil der bettlägerigen Geiseln sei gelb im Gesicht, berichtet der Duma-Abgeordnete Grigorij Jawlinski, als hätten sie einen Leberschaden.
Experten außerhalb Russlands streiten ebenfalls, um was für ein Gas es sich überhaupt gehandelt haben könnte. Die Seriösen unter ihnen geben jedoch zu bedenken, dass sie nur spekulieren können, da die russischen Behörden keine Details verraten. Der deutsche Terrorismusexperte David Schiller schätzt, dass es sich um eine Substanz handeln könnte, die aus dem Kampfstoff Quinuclidinyl-Benzilat, kurz 3 BZ genannt, weiterentwickelt wurde. Der Kampfstoff wurde in den sechziger Jahren von den USA hergestellt, ist jedoch mittlerweile weltweit verboten. Die USA hatten bereits vorher die Weiterentwicklung gestoppt, da sich die Wirkung des Stoffes als "unvoraussehbar" zeigten. Vor allem die lange Wirkungsdauer von 3 BZ, das Menschen bis zu 48 Stunden bewusstlos macht, hielt die US-Militärs von der weiteren Verwendung ab.
Schiller zufolge sprechen mehrere Faktoren für den Einsatz des Stoffes, der als Aerosol leicht über die Belüftung in den Theatersaal zu bringen sei. "Schneller Bewusstseinsverlust, rasch einsetzende Lähmungserscheinungen, vor allem aber, dass die Geiseln nach der Freilassung trotz frischer Luft nicht sofort wieder erwachten, sind typische Folgen des Kampfstoffes", sagte Schiller, der selber in deutschen und israelischen Anti-Terror-Einheiten kämpfte und das Waffenmagazin "Visier" als Chefredakteur verantwortet. Auch dass die Moskauer Opfer an Herz- und Kreislaufversagen starben, passt für Schiller zu seiner Vermutung. "Das Gift ist für gesunde Menschen eher ungefährlich, doch die Geiseln waren alle geschwächt, viele vielleicht auch krank. Für sie war das Gas dann möglicherweise tödlich", so Schiller.
Gab es eine Alternative?
Das ehemalige Mitglied von Sondereinheiten wies auch darauf hin, dass trotz der vielen Zweifel an dem russischen Vorgehen die schwierige Situation in dem Theater beachtet werden müsse. "Die Polizei hatte kaum Alternativen zu dem Einsatz eines Kampfgases, das natürlich für die Geiseln ebenso gefährlich ist wie für die Rebellen", sagte Schiller. Trotzdem plädierte er ebenfalls für eine schnelle Aufklärung der Vorgänge.
Andere Experten vermuten, dass es sich bei dem Gas um ein zu hoch dosiertes Narkosemittel gehandelt haben könnte. Jewjgenij Jewdokimow, Moskaus Chef-Anästhesist, sagte der Zeitung "Financial Times", es habe sich um ein Narkosemittel gehandelt, das denen sehr ähnlich sei, die in der Chirurgie eingesetzt würden. Die Folgen solcher Mittel seien zunächst Bewusstlosigkeit, dann Atem- und Kreislaufprobleme. Dagegen wenden andere Experten ein, es gebe technisch keine Möglichkeit, herkömmliche Narkosemittel so schnell in einem so großen Raum zu verbreiten.
In Russland wurde für heute landesweite Staatstrauer verhängt. Vor dem am Samstagmorgen von der Polizei mit Hilfe von Betäubungsgas gestürmten Musical-Theater legten Menschen Blumen nieder und zündeten Kerzen an. In den Schulen soll der Unterricht mit einer Schweigeminute beginnen. Alle Vergnügungsveranstaltungen wurden abgesagt.
Matthias Gebauer, Gisbert Mrozek