
Geiseldrama in Algerien Die Lehren von Ain Amenas
Mindestens 55 Menschenleben hat das Geiseldrama auf dem algerischen Gasfeld Ain Amenas gefordert. Am Sonntag haben Sicherheitskreise noch weitere Leichen auf dem Gelände gefunden. Die algerische Regierung hatte schon gewarnt, dass die Zahl noch steigen könne. Die Einsatzkräfte der Armee seien nämlich noch immer dabei, das weitläufige Gelände zu sichern.
Der brutale Überfall der islamistischen Terrorgruppe al-Muwaqiun bi-l Dam ("Die mit dem Blut unterschreiben") ist der deutlichste Beweis für die sich drastisch verschlechternde Sicherheitslage in der Sahara-Region. Lange hat Europa die Entwicklung in Nordafrika nach Kräften ignoriert. Schlagzeilen machte das Gebiet nur, wenn westliche Touristen in der Wüste von bewaffneten Banden verschleppt und erst gegen Lösegeldzahlungen in Millionenhöhe freigelassen wurden. Doch die ersten Wochen des jungen Jahres zeigen die Brisanz der Lage: Erst interveniert die französische Armee in Mali, kurz darauf überfallen Islamisten das Gasfeld Ain Amenas im Osten Algeriens. Die Region wird Europa in den nächsten Monaten und Jahren in Atem halten. Doch schon jetzt gilt es, Lehren aus dem Angriff auf die Gasförderstätte zu ziehen:
1. Gasfelder müssen stärker gesichert werden
Mit ihrem Überfall auf Ain Amenas trafen die Terroristen den algerischen Staat an seiner empfindlichsten Stelle. Die Wirtschaft des Landes ist fast vollständig von den Öl- und Gasexporten abhängig. Sollten westliche Unternehmen wie BP oder Statoil ihr Engagement in Algerien zurückfahren, würden Algier Einnahmen in Milliardenhöhe verlorengehen. Trotz ihrer Bedeutung sind die algerischen Öl- und Gasfelder bislang nur unzureichend gesichert. Zwar schützen private Sicherheitsfirmen die Anlagen, dem Angriff hochgerüsteter und rücksichtsloser Terroristen konnten die Wachleute in Ain Amenas jedoch nicht standhalten.
2. Die Geheimdienste müssen ihre Arbeit machen
Frankreich sendet mehr als 2000 Soldaten nach Mali, auch afrikanische Staaten entsenden Truppen ins Krisengebiet. Doch mit militärischen Mitteln allein werden Paris und seine Verbündeten die Lage nicht dauerhaft in den Griff bekommen. Seit Jahren sind islamistische Milizen in der Sahara aktiv und gewinnen stetig an Macht. Trotzdem wissen westliche Geheimdienste bislang nur wenig über diese Gruppen. Anders als etwa im Fall al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP), ist es bislang noch keinem Geheimdienst gelungen, Informanten in den nordafrikanischen Terrorgruppen zu rekrutieren. So konnten auch die Angreifer von Ain Amenas mit zahlreichen Fahrzeugen unbehelligt von ihrem fast tausend Kilometer entfernten Stützpunkt in Niger nach Algerien gelangen.
3. Die afrikanischen Staaten brauchen eine gemeinsame politische Strategie
Terrorgruppen wie al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM), die Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika (Mujao) oder al-Muwaqiun bi-l Dam sind über Ländergrenzen hinweg aktiv. Die unzugängliche, fast menschenleere Wüste bietet ihnen einen idealen Rückzugsort. Die Sicherheitskräfte der Sahara-Staaten sind unzulänglich ausgerüstet, schlecht ausgebildet und wegen schlechter Entlohnung oft auch nicht motiviert. Hinzu kommen politische Rivalitäten. Aller Solidaritätsbekundungen zum Trotz gibt es bislang keine gemeinsame Strategie der betroffenen Länder für den Kampf gegen Milizen. Stattdessen dominieren Zwietracht und Missgunst. Algiers Beziehungen zu Marokko sind seit Jahrzehnten angespannt, auch mit der neuen libyschen Führung liegt die Regierung über Kreuz. Erkenntnisse über die Terrorgruppen werden kaum untereinander ausgetauscht; anstatt das Problem entschlossen anzugehen, haben Staaten wie Algerien und Mali bislang einfach versucht, die Milizen in die Nachbarländer zurückzudrängen. Dauerhaft kann die Region so nicht befriedet werden.
4. Entwicklungshilfe muss intelligenter eingesetzt werden
"Entwicklungshilfe ist das schärfste Schwert gegen Extremismus", hat Entwicklungsminister Dirk Niebel zur Krise in der Sahara-Region gesagt. Er verweist darauf, dass seit 2009 124 Millionen Euro in Entwicklungsprojekte nach Mali geflossen sind. Doch für Mali gilt wie für andere Staaten in der Region: Die politischen Ziele, die mit der Entwicklungshilfe verknüpft sind, werden nicht erreicht. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in Armut, die Analphabetenrate liegt auch Anfang des 21. Jahrhunderts in einem Land wie Niger bei 80 Prozent, in Mauretanien bei 57 Prozent. Minderheiten wie die Tuareg haben in diesen Ländern keine Lobby, keine Perspektive. Radikale Islamisten haben es dort leicht, Anhänger und Unterstützer zu finden.
5. Der Westen muss unabhängiger von Öl- und Gasimporten werden
Das Geiseldrama von Ain Amenas führt auch vor Augen, dass sich Europa aus der Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten befreien muss. Und das gar nicht nur deshalb, um seine Bürger, die auf Gasfeldern in der Sahara arbeiten, vor weiteren Angriffen zu bewahren. Die sprudelnden Einnahmen aus den Rohstoffexporten blockieren auch die wirtschaftliche und politische Entwicklung vor Ort. Das ist nirgendwo deutlicher zu sehen als in Algerien. Das Land nimmt pro Jahr mehr als 70 Milliarden Dollar durch die Ausfuhr von Öl und Gas ein. Das Geld landet jedoch in den Taschen des Militärs, das Politik und Wirtschaft kontrolliert und kein Interesse zeigt, das Land zu modernisieren. Die Folge: Ein Drittel der jungen Algerier ist arbeitslos, viele weitere verdienen zu wenig, um ihre Familie zu ernähren, Extremisten gewinnen Zulauf.
Und auch die indirekten Folgen des westlichen Hungers nach Öl und Gas sind gewaltig. Die Krise im Sahara-Raum ist nämlich auch eine Folge des Klimawandels. Gerade in Mali hat nach Jahren großer Trockenheit die Fläche des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens drastisch abgenommen. Zehntausende Menschen waren gezwungen in andere Landesteile zu ziehen. Diese Fluchtbewegung hat die Spannungen in der Region weiter verschärft.
Die Folgen all dieser Entwicklungen sind nun auch für den Westen spürbar geworden. Erst in Mali, nun in Ain Amenas.