General Naumann zu Georgien "Eine Schande für Moskaus Streitkräfte"
SPIEGEL ONLINE: Herr Naumann, hätten Sie als früherer General der georgischen Führung zu einem Militärschlag gegen die abtrünnigen Gebiete Südossetien und Abchasien geraten?
Naumann: Soldaten dürfen ihren Politikern nur zum Gebrauch der Waffen raten, wenn es dafür eine eindeutige rechtliche Grundlage und eine realistische Aussicht auf raschen Erfolg bei geringst möglichen Verlusten gibt. Ohne genaue Kenntnis der Ausgangslage kann man die Frage daher nicht beantworten.
SPIEGEL ONLINE: War die politische Führung um den georgischen Präsidenten herum schlichtweg naiv oder überheblich?
Naumann: Nach meiner Einschätzung hat man sich provozieren und in eine geschickt gestellte Falle locken lassen.
SPIEGEL ONLINE: Seit Tagen ruft Georgien nach der Hilfe des Westens. Ist Tiflis im Stich gelassen worden?
Naumann: Georgien hatte keinerlei Grund, militärischen Beistand zu erwarten. Es hatte aber jedes Recht auf uneingeschränkte politische Unterstützung, als Russland wieder einmal das Gebot der Verhältnismäßigkeit grob verletzte und in georgisches Kernland vordrang und unverhohlen von Bestrafung sprach. Die Unfähigkeit Europas, Unrecht mit einer Stimme Unrecht zu nennen, dürfte Europa geschadet haben.
SPIEGEL ONLINE: In Tschetschenien hat Moskau auf den Aufstand mit totaler Zerstörung von Städten reagiert. Das schien eine fast archaische Kriegführung im Vergleich zu den Nato-Operationen in Jugoslawien oder die der Alliierten im Irak. Erkennen Sie im Kaukasus eine Änderung der russischen Taktik?
Naumann: Ich habe nicht den Eindruck, dass Moskaus Vorgehen sich geändert hat. Die Bombardierungen von Städten und anderen nicht-militärischen Zielen zeigen noch nicht einmal andeutungsweise die Präzision der Nato im Kosovo und werfen die Frage auf, ob die russischen Truppen sich schwerer Verletzungen des Kriegsvölkerrechts schuldig gemacht haben. Das vor aller Welt gezeigte Verhalten marodierender russischer Soldaten in Georgien ist eine Schande für Moskaus Streitkräfte und disqualifiziert Russland für jeglichen Einsatz als Friedenstruppe.
SPIEGEL ONLINE: Georgien will seit langem in die Nato. Die Kanzlerin hat auf dem letzten Gipfel in Bukarest selbst eine Mitgliedschaft des Landes im Membership Action Plan (MAP) abgelehnt, dem immerhin Albanien angehört. War das eine weise Entscheidung von Angela Merkel?
Naumann: Es war stets Grundsatz der Nato, Staaten mit ungelösten territorialen Problemen nicht aufzunehmen. Insofern war die Haltung der Kanzlerin berechtigt. Möglicherweise hat man in Moskau Bukarest so interpretiert, dass es nun Zeit sei, ein Exempel zu statuieren, um eine völlige Erosion der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, der GUS, vorbeugend zu verhindern.
SPIEGEL ONLINE: Würden Sie denn langfristig eine Mitgliedschaft Georgiens in der Nato befürworten?
Naumann: Die Frage stellt sich nicht mehr, denn die Nato hat in Bukarest einstimmig beschlossen, dass Georgien und die Ukraine Mitglied werden. Offen ist nur das Wann.
SPIEGEL ONLINE: Aber würde die Nato dadurch nicht potentieller Gegner Russlands?
Naumann: Keine Nato-Erweiterung war jemals gegen Russland gerichtet. Zur Partnerschaft und Kooperation mit Russland gibt es für beide Seiten keine Alternative.
SPIEGEL ONLINE: Bedeutet das Eingreifen Russlands in Georgien eine Zäsur in den Beziehungen zu Moskau? Fallen wir zurück in die Feindbilder und die Rhetorik des Kalten Kriegs?
Naumann: Einen Rückfall in Konfrontation darf es in beiderseitigem Interesse nicht geben, aber man muss Russland in großer Deutlichkeit sagen, dass sein unverhältnismäßiges Handeln nicht akzeptabel ist und dass Russland so nicht der geachtete Partner sein kann, der es so gerne wäre.
SPIEGEL ONLINE: Wird der Kaukasus durch das überraschend starke Eingreifen Moskaus geopolitisch neu vermessen?
Naumann: Russlands Ansprüche im Kaukasus sind nicht neu und das militärische Handeln Moskaus in Georgien war auch keineswegs sehr eindrucksvoll, legt allerdings den Verdacht nahe, dass es von langer Hand vorbereitet war. Geboten ist der Dialog mit Russland, um die Souveränität der bestehenden Staaten im Kaukasus langfristig zu sichern.
SPIEGEL ONLINE: Russland erscheint im Augenblick mächtig. Ist es das?
Naumann: Ich halte Russland nicht für so stark, wie es die Herren Putin und Medwedew der Welt weismachen wollen. Es ist reich an Rohstoffen und finanziell stark durch den Verkauf seiner Rohstoffe. Seine Industrie aber ist schwach, deswegen will man ja Firmen im Ausland kaufen. Technologisch ist eine gute Basis vorhanden, aber lange nicht so gut wie in den USA und in Teilen Europas.
SPIEGEL ONLINE: Wie steht es mit der militärischen Stärke?
Naumann: Das russische Militär hat noch einen weiten Weg vor sich, bis es wieder in der Spitzengruppe ist. Hinzu kommt, dass Russland ein gewaltiges demographisches Problem zu bewältigen hat. Insgesamt ist Russland also ein Koloss, der Partnerschaft braucht, um seiner selbst sicher zu werden.
SPIEGEL ONLINE: Russland fühlte sich jahrelang nicht angemessen behandelt. Unter dem früheren Präsidenten und heutigen Ministerpräsidenten Wladimir Putin soll es zu neuer Großmachtblüte kommen. Heute trifft die Kanzlerin den russischen Präsidenten Dmitrij Medwedew in Sotschi. Zu welchem Umgang raten Sie mit Russland?
Naumann: Es gibt für den Westen und für Russland nur einen vernünftigen Weg: Partnerschaft und Kooperation. Wir brauchen Russland - und Russland braucht uns. Deswegen muss man Russland deutlich sagen, dass sein Verhalten in Georgien unangemessen war und sich nicht wiederholen darf. Nach einer nun wohl unvermeidlichen Phase der Abkühlung muss man daher zu einem ausgewogenen und fairen Dialog zurückfinden.
Das Interview führte Severin Weiland