Georgien-Konflikt In Washington nahm niemand das Telefon ab
Moskau - Jurij Popow ist ein Mann, der mit ruhiger Stimme spricht - ein Diplomat der leisen Töne. Kurz nach der Attacke des georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili auf die südossetische Hauptstadt Zchinwali in der Nacht auf den 8. August gibt er dem georgischen Fernsehsender Rustawi-2 ein Interview und sagt: "Beide Seiten, Südosseten und Georgier, tragen Verantwortung für das, was geschehen ist."
Da ist Popow wütend darüber, dass ihn seine georgischen Verhandlungspartner hintergangen haben, wie er findet. Da quälen ihn Schuldgefühle und die Frage, ob er das Blutvergießen doch hätte verhindern können. Und dennoch denkt er auch in diesem Moment nicht nur in Schwarz und Weiß, sieht nicht nur Freunde und Feinde. Jurij Popow ist ein klassischer Vermittler.
Seit Wochen sieht Popow, Moskaus Sonderbotschafter in der Region, dass sich der Konflikt hochschaukelt, den er unter Kontrolle halten soll. Haben die Georgier ein Scharmützel begonnen, planen die Osseten den Gegenschlag und umgekehrt. Popow kennt den Kaukasus und den mitunter archaischen Ehrenkodex, in dem Rache ganz oben steht. Dann möchte er manchmal vor Wut über die Unvernunft aus der Haut fahren.
Eine Woche vor der blutigen Nacht des 7. August weilt Popow drei Tage in Tiflis. Sein georgischer Verhandlungspartner Temuri Jakobaschwili versichert ihm, dass Tiflis niemals Gewalt anwenden werde. Die Situation gleiche doch dem Kalten Krieg. Die gegenseitige Vernichtung sei garantiert.
Am 2. August fliegt Popow zurück Moskau, die Zeichen stehen auf Sturm. Tags zuvor ist Zchinwali angegriffen worden. "Mit Haubitzen und Granatwerfern, es gab dreißig Detonationen, mindestens drei Osseten starben durch georgische Scharfschützen", gibt Popow gegenüber SPIEGEL ONLINE zu Protokoll.
Fortan ist Popow beinahe pausenlos am Telefon. Er will erreichen, dass Georgier und Südosseten schnell und direkt miteinander reden. Die Georgier hatten den Verhandlungstisch im vergangenen Jahr verlassen, weil sie die Zusammensetzung der Vermittlungsgruppe aus Russen, Georgiern, Südosseten und Nordosseten nicht länger akzeptierten. Und Jakobaschwili hatte gleich nach seinem Amtsantritt im Frühjahr sein Ministerium umbenannt. Nicht mehr Ministerium für Konfliktregulierung, sondern Ministerium für Reintegration, heißt es nun.
Die Osseten, die nicht in den georgischen Staat integriert werden wollen und in Russland ihre Schutzmacht sehen, verstehen dies als Kampfansage und bestehen auf dem alten Verhandlungsformat mit ihren nordossetischen Vettern. Daran ändert auch der Druck des großen Bruders in Moskau nichts.
In der Nacht zum 7. August, weniger als 24 Stunden vor Ausbruch des Krieges, bricht Popow vierzig Minuten nach Mitternacht mit Aeroflot-Flug 197 wieder nach Tiflis auf. Er trifft seinen Gegenpart Jakobaschwili im Marriott Hotel zum Lunch, die beiden vereinbaren ein Treffen von Südosseten, Georgiern und Russen. Es wird nie zustande kommen. Auf dem Weg von Tiflis nach Zchinwali, so erzählt der Sonderbotschafter, platzt der Hinterreifen von Popows gepanzertem Chevrolet Suburban. 70 Kilometer hinter der georgischen und 40 Kilometer vor der südossetischen Hauptstadt. Knapp zwei Stunden steckt Popow fest - und in Zchinwali wartet inzwischen Jakobaschwili vergeblich auf Popow und die Südosseten.
Als Russlands Sonderbotschafter kurz nach sechs Uhr abends in Zchinwali eintrifft, bereiten sich die Osseten schon auf die Verteidigung ihrer Hauptstadt vor. Im Keller eines Regierungsgebäudes trifft Popow den südossetischen Präsidenten Eduard Kokoiti. Der ehemalige Ringer trägt Uniform. Nach zähen Verhandlungen willigt Kokoiti in ein Treffen im Format Russen-Georgier-Südosseten am nächsten Tag um 13 Uhr im Stab der russischen Friedenstruppen ein - ohne die Nordosseten.
Die Südosseten haben sich bereiterklärt, einen Schritt auf die Georgier zuzugehen. Popow verkündete den Verhandlungserfolg vor der Presse und informiert Jakobaschwili. Der verspricht, sofort Meldung an Saakaschwili zu machen, der seinerseits eine Waffenruhe verkündet hatte. Die Zeichen scheinen auf Entspannung zu stehen.
Popow trinkt einen schnellen Tee mit dem Kommandeur der russischen Friedenstruppen Rinat Kulachmetow. Der lädt ihn ein, über Nacht zu bleiben, wo doch morgen schon die wichtigen Verhandlungen beginnen sollen. "Aber ich hatte keine Zahnbürste und keinen Schlafanzug dabei und wollte am nächsten Morgen auch noch die russische Botschaft in Tiflis aufsuchen", erzählt Popow. Seitdem quält ihn eine Frage. "Hätte die Offensive auch begonnen, wenn Saakaschwili gewusst hätte, dass ich, der russische Chefunterhändler in Zchinwali gewesen wäre?"
Als Popow von Zchinwali zurück nach Tiflis fährt, ist er erleichtert, sogar ein wenig euphorisch. Nach tagelangem Tauziehen hat er ein direktes Treffen der Konfliktparteien vermittelt. Dann aber kommen Popow auf der Gegenfahrbahn schwere Militärtransporte entgegen, wie er erzählt. Fünf Panzer, sechs Panzerwagen, dann fünf Haubitzen, dann Stalinorgeln, Lastwagen und Busse mit Soldaten und Offizieren. "Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Ich habe das alles per Telefon in Echtzeit übermittelt", erzählt er. Popow ruft seinen georgischen Verhandlungspartner Jakobaschwili an. "Was soll das?", will der Russe wissen. Der Georgier antwortet: "Mach dir keine Sorgen. Präsident Saakaschwili hält sein Wort. Wir wollen die Südosseten nur von Dummheiten abhalten."
Popow telefoniert mit dem russischen Kommandeur der Friedenstruppen in Zchinwali und mit seinen Vorgesetzten in Moskau, darunter Vizeaußenminister Grigorij Karasin, ein besonnener und bei westlichen Botschaftern geschätzter Karrierediplomat.
In Washington habe irgendwann niemand mehr abgehoben, behaupten die Russen
Wie so oft bleibt Karasin auch an diesem 7. August, einem regnerischen Spätsommertag, bis in den späten Abend in seinem Büro im siebten Stock des Stalin-Wolkenkratzers im Herzen Moskaus. So erreicht ihn Popows Anruf noch an seinem Schreibtisch.
Auf der Schrankwand gegenüber stehen Porzellanfiguren aus der Ukraine, ein Bronzeadler aus Moldawien. Karasin, zuvor fünf Jahre lang Botschafter in London, ist zuständig für die schwierigen Beziehungen zu den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), ehemaligen Republiken der Sowjetunion. In seinen Verantwortungsbereich auch fallen die Konfliktzonen auf dem Territorium der Schwarzmeer-Republik Georgien, das abtrünnige Abchasien und Südossetien. "Es gab in den vergangenen drei Jahren kaum einen Tag, an dem ich nicht mit europäischen, amerikanischen und georgischen Gesprächspartnern in dieser Angelegenheit gesprochen habe", sagt er. "Bei allen Meinungsverschiedenheiten einte uns dennoch immer eines: Gewalt anzuwenden ist tabu."
"Der Präsident hat nicht viel geschlafen"
Seit Anfang August aber beunruhigen Karasin Meldungen seines Sonderbotschafter Popows und Berichte des Kommandeurs der russischen Friedenstruppen Kulachmetow. Die Scharmützel in Südossetien häufen sich. Der Konflikt droht bis hin zum Krieg zu eskalieren.
Nach zehn Uhr verlässt Karasin sein Büro, lässt einen diensthabenden Mitarbeiter zurück und fährt nach Hause in seine Wohnung, die 15 Minuten vom Ministerium entfernt liegt. "Ich hoffte, dass der georgische Präsident Saakaschwili sich an den Waffenstillstand hält, den er an diesem Abend verkündet hatte", sagt Karasin. Er will sich gerade zu Bett legen, als ihm General Kulachmetow kurz vor Mitternacht vom georgischen Angriff auf Zchinwali berichtet.
Noch von zu Hause telefoniert Karasin mit Präsident Dmitrij Medwedew, einer von sieben Anrufen in dieser Nacht. "Der Präsident hat nicht viel geschlafen", sagt Karasin. Medwedew gibt Anweisung, schnellstmöglich mit Saakaschwili Kontakt aufzunehmen. "Ich konnte ihn aber nicht direkt sprechen, nur mit seinen engsten Mitarbeitern." Dann lässt sich Karasin zu Dan Fried durchstellen, seinem amerikanischen Pendant in Washington. Man versuche, das in den Griff zu bekommen, erklärt der US-Vizeaußenminister.
Irgendwann hebt in der amerikanischen Hauptstadt niemand mehr ab, und das, obwohl dort der Arbeitstag lange noch nicht zu Ende ist, berichtet Karasin. Ob Washington hinter der georgischen Kommandoaktion stecke? "Das wäre wohl eine zu starke Beschuldigung. Aber sie haben Saakaschwili die falschen Signale gegeben, und er hat seit Monaten gefühlt, dass ihn Washington nicht fallen lässt", findet Karasin. Sonderbotschafter Popow geht einen Schritt weiter: "Wenn es eine lange vorbereite Offensive war, konnte das den amerikanischen Militärberatern nicht verborgen geblieben sein."
Kurz vor Mitternacht, im Moskauer Außenministerium laufen die Telefonleitungen heiß, trifft Popow in seinem Tifliser Hotel ein. "Ich konnte bis in die Morgenstunden nicht einschlafen. Ich hätte den Georgiern gerne geglaubt. Nun fühlte ich mich betrogen", erinnert sich Popow.
"Jurij, ich habe dir immer die Wahrheit gesagt"
Popow hat Jakobaschwili, den georgischen Unterhändler, noch einmal gesehen - am 12. August, am Tag, ehe Popow Tiflis verließ, um nach sechsstündiger Autofahrt aus der armenischen Hauptstadt Eriwan zurück nach Moskau zu fliegen. Der direkte Flugverkehr zwischen Georgien und Russland war inzwischen eingestellt worden. Jakobaschwili hat Popow in die Augen geschaut und beteuert: "Jurij, ich habe dir immer die Wahrheit gesagt."
Falls dies so stimmt, hat der georgische Präsident entweder seinen wichtigsten Unterhändler über seine Pläne im Dunkeln gelassen, oder er hat seine Entscheidung zum Angriff auf Zchinwali in allerletzter Minute getroffen. Im Gespräch mit dem SPIEGEL-Korrespondenten Uwe Klußmann schilderte Saakaschwili den Angriff seiner Truppen als eine Art Präventivschlag. "Dann erfuhren wir am 7. August, dass 150 russische Panzer aus Nordossetien über die Grenze nach Südossetien rollten. Sie fuhren auf von uns kontrollierte georgische Dörfer zu. Direkt hinter diesen Orten liegt die südossetische Hauptstadt Zchinwali. Von dort aus hätten sie in jede beliebige Richtung weiter nach Georgien fahren können."
Daraus ergeben sich einige Schlüsselfragen zur Klärung der Hintergründe des kaukasischen Fünf-Tage-Krieges: Wenn Saakaschwilis Behauptung stimmt, kann Moskau sein Vorgehen nicht länger als einen Akt der Selbstverteidigung hinstellen.
Mit der Entsendung von 150 Panzern und Panzerwagen - und seien sie nur als Abschreckung gedacht gewesen - hätte der Kreml den überhasteten Militärschlag Saakaschwilis zumindest entscheidend mit provoziert.
Gefragt, ob die genannte Panzerkolonne bereits am späten Abend des 7. August, also in den Stunden vor dem Angriff Saakaschwilis auf Zchinwali tatsächlich auf dem Weg durch den Roki-Tunnel war, sagte Vizeaußenminister Grigorij Karasin gegenüber SPIEGEL ONLINE: "Ich versichere Ihnen mit meiner ganzen Autorität, dass dem nicht so war." In Moskau fragt man, ob sich "Saakaschilis großer Bruder in Washington eine solche Gelegenheit entgehen lassen könnte, uns an den Pranger zu stellen". Die von Saakaschwili behauptete Panzer-Streitmacht können der westlichen Aufklärung doch nicht entgangen sein.
Wenn Saakaschwillis Behauptung nicht stimmt, gibt es dafür zwei mögliche Gründe: Erstens, der georgische Präsident hat gelogen, um im Nachhinein eine Rechtfertigung für seinen gescheiterten Angriff zu finden. Vor der Welt und vor seinem eigenen Volk. Zweitens, Saakaschwili ist einer Desinformation aufgesessen. Und wenn dies so ist, ergibt sich daraus eine weitere Frage: Woher kam diese dann?