Georgiens Premier "Russland muss unsere Souveränität achten"

Georgi Kwirikaschwili, 48, ist seit dem 30. Dezember 2015 Premierminister Georgiens. Zuvor amtierte er als Wirtschafts- und Außenminister. Der Mediziner und Ökonom hat einen Teil seiner Ausbildung in den USA absolviert. Zu seinen erklärten Zielen gehört es, Georgien in die EU und die Nato zu bringen, was allerdings die schwierigen Beziehungen zu Russland weiter verschlechtern könnte.
Ist im Westen von Russland die Rede, geht es meist um Moskaus militärische Interventionen in der Ukraine und in Syrien. Der Georgien-Krieg von 2008, den Russland binnen fünf Tagen für sich entschied, ist dagegen kaum noch Thema. Doch das Muster war bereits das gleiche wie auf der Krim und in der Ostukraine: Russland besetzt Gebiete und behält sie dauerhaft - auch wenn von Annexion offiziell keine Rede ist.
Dahinter dürfte auch die Strategie des Kremls stecken, seinen Einflussbereich zu erhalten und auszudehnen. Denn Georgien strebt seit Jahren eine Mitgliedschaft in EU und Nato an, was als eine Ursache des Kriegs von 2008 gilt. Doch solang der Konflikt mit Russland schwelt, sind die Aussichten Georgiens gering: Die Nato nimmt prinzipiell keinen Staat mit ungelösten Grenzkonflikten auf, und auch in Brüssel besteht kaum Interesse an einer weiteren Eskalation des Konflikts mit Russland. Zudem gibt es in der EU eine neue Skepsis gegenüber osteuropäischen Staaten nach deren unsolidarischem Verhalten in der Flüchtlingskrise und nationalistischen Aufwallungen.
Im Interview mit SPIEGEL ONLINE erklärt Georgiens Premierminister Georgi Kwirikaschwili, wie er sein Land dennoch in Richtung Westen führen will.
SPIEGEL ONLINE: Herr Premierminister, Sie wollen Georgien in die EU und in die Nato bringen. Warum ist das so wichtig für Ihr Land?
Georgi Kwirikaschwili: Kulturell war Georgien schon immer ein europäisches Land. Europa ist die Heimat Georgiens. Außerdem ist Georgien die geografische Verbindung zwischen Europa, dem Südkaukasus und Zentralasien. Gerade jetzt bietet die Öffnung Irans neue Möglichkeiten für Georgien und Europa.
SPIEGEL ONLINE: In der Flüchtlingskrise haben gerade die osteuropäischen Staaten zuletzt wenig Solidarität mit ihren westlichen Partnern gezeigt, während sie gleichzeitig von EU-Mitteln und der Freizügigkeit profitieren. Inzwischen glauben einige, Osteuropa sehe die EU hauptsächlich als Freihandelszone und weniger als Wertegemeinschaft. Warum sollte der Westen ein weiteres osteuropäisches Land in die EU aufnehmen?
Kwirikaschwili: Gerade deswegen betone ich die historische kulturelle Verbindung zwischen Georgien und Europa. Die Weltbank bescheinigt Georgien außerordentliche Leistungen in Sachen freie Meinungsäußerung, Gewaltfreiheit, Stabilität und Qualität der Gesetzgebung. Der aktuelle Bericht des Uno-Menschenrechtsrats zeigt den gleichen positiven Trend. Das gibt uns das Recht zu sagen, dass wir uns vor allem aufgrund der Werte auf Europa zubewegen.
SPIEGEL ONLINE: Nachdem das Bündnis "Georgischer Traum", dem auch Sie angehören, 2012 die Wahl gewonnen hatte, kam es zu Prozessen gegen eine Reihe früherer Regierungsmitarbeiter. Kritiker sprachen von einer regelrechten Hexenjagd.
Kwirikaschwili: Unter der vorherigen Regierung hatte sich die Menschenrechtslage stark verschlechtert. 300.000 Georgier wurden verfolgt - in einem Land mit vier Millionen Einwohnern. Jetzt kritisieren die Leute die aktuelle Regierung für Prozesse gegen frühere hohe Beamte. Ich freue mich nicht darüber, Leute hinter Gittern zu sehen. Aber in einem Staat sollte das Recht herrschen.
SPIEGEL ONLINE: Während Ihres jüngsten Besuchs in Brüssel betonte EU-Ratspräsident Donald Tusk, dass strafrechtliche Untersuchungen in Georgien "auf Beweisen basieren, transparent und objektiv" sein sollten. In einem Rechtsstaat wäre das eine Selbstverständlichkeit.
Kwirikaschwili: Ich habe das nicht als Kritik verstanden, sondern eher als Äußerung eines Partners, der die demokratische Entwicklung Georgiens ernst nimmt. Ich glaube, unsere Partner können sehr wohl beurteilen, in welche Richtung der Trend zurzeit geht. Wir sind nicht perfekt, aber eine kontinuierliche Verbesserung ist offensichtlich.
SPIEGEL ONLINE: Georgien will auch Nato-Mitglied werden. Allerdings kann das Bündnis keine Staaten mit ungelösten Grenzkonflikten aufnehmen - und seit dem Kaukasuskrieg vom August 2008 sind immer noch russische Truppen auf georgischem Territorium stationiert. Auch wird Deutschland und Frankreich nachgesagt, dass sie eine Nato-Mitgliedschaft Georgiens ablehnen.
Kwirikaschwili: Es stimmt, dass wir über einen Teil unseres Staatsgebiets keine Kontrolle haben, aber ich denke, dass dies kein Hindernis für unsere Nato-Mitgliedschaft ist. Dafür ist die Zustimmung aller Mitgliedstaaten notwendig, und einige sind halt dagegen. Dennoch arbeiten wir weiter mit der Nato zusammen. Die vollwertige Mitgliedschaft bleibt ein strategisches Ziel für unser Land.
SPIEGEL ONLINE: Belastet das Ihre Beziehungen zu Russland nicht zusätzlich?
Kwirikaschwili: Ich glaube nicht, dass unser Streben nach der Nato-Mitgliedschaft von russischen Politikern als feindlich angesehen werden sollte. Wir sind ernsthaft an Stabilität im Südkaukasus interessiert. Wir brauchen die Nato für diese Stabilität, und nicht für Feindseligkeiten. Russland und Georgien sind seit Jahrhunderten Nachbarn, und wir können unsere Beziehungen verbessern. Doch Russland muss unsere Souveränität und territoriale Integrität achten. Und Souveränität bedeutet auch, dass Georgien das Recht hat, jedem Bündnis seiner Wahl beizutreten - auch der Nato.