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Tunesien: Freiheitsliebe, Chaos und Gewalt

Foto: ZOHRA BENSEMRA/ REUTERS

Gestürzter Ben Ali Saudis nehmen Tunesiens Diktator auf

Diktator Ben Ali ist wegen der Massenproteste in Tunesien nach Saudi-Arabien geflohen. Doch auch nach seinem Rücktritt gehen die Unruhen weiter. Der Zentralbahnhof in Tunis brannte, in Wohnvierteln herrscht Chaos. EU und USA rufen die Demonstranten zur Mäßigung auf.

Tunesiens

Tunis - Nach blutigen Massenprotesten ist Präsident Zine el-Abidine Ben Ali nach Saudi-Arabien geflohen. Am frühen Samstagmorgen traf die Maschine des Präsidenten in der Stadt Dschiddah am Roten Meer ein. Man habe Ben Ali und seine Familie im Königreich willkommen geheißen, meldete die saudische Nachrichtenagentur SPA. Ein Mitarbeiter des Flughafens sagte der Nachrichtenagentur AFP, Ben Ali sei dort in einem speziellen Bereich für Ehrengäste empfangen worden.

Ben Ali hatte nach Angaben der Zeitung "Le Monde" zuvor versucht, in Paris zu landen. Die französische Regierung habe ihn aber nicht einreisen lassen wollen.

Nach 23 Jahren an der Macht hatte der autoritäre Herrscher am Freitag den Ausnahmezustand verhängt, die Regierung abgesetzt und Neuwahlen angekündigt. Das bestätigte Premier Mohammed Ghannouchi.

Ghannouchi rief die Bevölkerung zur Einheit auf. Er sagte, er werde sich am Samstag mit den Führern der politischen Parteien treffen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Zwei Oppositionsführer hätten Bereitschaft zur Zusammenarbeit signalisiert. Eine Rückkehr Ben Alis nach Tunesien bezeichnete er als "unmöglich". Ghannouchi wurde zunächst als Übergangspräsident eingesetzt, am Samstagmorgen löste Parlamentschef Foued Mebazaa ihn in diesem Amt ab.

Tunesien wird seit Wochen von gewaltsamen Protesten gegen die Regierung erschüttert. Der Unmut vieler, vor allem junger Menschen richtet sich gegen die hohe Arbeitslosigkeit, hohe Preise und mangelnde Freiheiten. Bei Ausschreitungen hatten Sicherheitskräfte in den vergangenen Tagen mehrfach auf Demonstranten geschossen. Menschenrechtler nannten bis Donnerstag die Zahl von 66 Toten.

Bahnhof in Tunis in Flammen

Ob das Land jetzt zur Ruhe kommt, ist unklar. Die Abreise des Präsidenten jedenfalls konnte die Ausschreitungen zunächst nicht stoppen. Sie gingen auch in der Nacht zum Samstag weiter. Nach Angaben von Augenzeugen brannte in der Nacht der Zentralbahnhof in Tunis. In mehreren Supermärkten und Wohngebäuden sei ebenfalls Feuer gelegt und auch ein Krankenhaus angegriffen worden. Einem AFP-Fotografen zufolge wurde im Norden der Hauptstadt am Freitag ein großes Einkaufszentrum angegriffen und am Samstag geplündert.

Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi sprach im tunesischen Staatsfernsehen von einem völligen Chaos. Er riet den Bewohnern von Tunis, sich in Gruppen zusammenzuschließen, um ihre Habe zu schützen. Unruhen wurden auch aus anderen Landesteilen gemeldet.

Erst am Morgen beruhigte sich die Lage etwas. Die Polizei riegelte das Zentrum von Tunis ab. Die Beamten errichteten am Samstagmorgen Sperren an einer großen Straße, um die Zufahrt in das Stadtinnere zu blockieren, wie AFP-Reporter berichteten. Zudem wurde das Aufgebot an Sicherheitskräften verstärkt. Cafés und Geschäfte blieben vorerst geschlossen.

Deutsche Touristen ausgeflogen

Reiseveranstalter flogen am Freitagabend deutsche Tunesien-Urlauber in die Heimat aus. Erste Maschinen trafen in Düsseldorf und Berlin ein. Wegen des Ausnahmezustands und der Sperrung des tunesischen Luftraums war es zu Flugausfällen gekommen, die die vorzeitige Heimkehr zahlreicher Touristen verzögerten. Reiseveranstalter schätzen, dass mit deutschen Anbietern etwa 7000 Touristen nach Tunesien geflogen sind. In den Hotels blieb es zunächst ruhig.

Das Auswärtige Amt in Berlin riet von nicht unbedingt erforderlichen Reisen nach Tunesien ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich besorgt über die Lage und mahnte eine friedliche Beilegung der sozialen Unruhen an.

Die EU-Kommission dringt ebenfalls auf einen friedlichen Wandel in dem Mittelmeerland. "Wir mahnen alle Parteien, Zurückhaltung zu zeigen und Ruhe zu bewahren, um weitere Opfer und Gewalt zu vermeiden", erklärte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton am Freitagabend in Brüssel. Der Schlüssel für die weitere Entwicklung sei der Dialog.

Auch die USA riefen alle Seiten zur Zurückhaltung auf. Die tunesische Regierung müsse "in diesem Moment des bedeutenden Wandels" das Recht ihres Volkes respektieren, sich friedlich zu versammeln und seine Ansichten zu äußern, erklärte US-Außenministerin Hillary Clinton. Die Vereinigten Staaten verfolgten die rapiden Entwicklungen ganz genau, so die Außenministerin. Sie rief zu freien und fairen Wahlen in naher Zukunft sowie zu Reformen auf.

Ben Alis Sturz hat Auswirkungen auf die gesamte Region

Ob die von Revolutionsromantikern flugs "Jasminrevolte" getauften Proteste tatsächlich einen nachhaltigen Wandel bringen werden, liegt jetzt an der Opposition. Sie müsse sich nun auf eine gemeinsame politische Linie einigen, sagt Lahsen Atschy, Nordafrika-Experte des Carnegie Middle East Centers in Beirut. "Die Bürger müssen Forderungen erarbeiten, wie sie ihr Land regiert sehen wollen", so Atschy. Er bezweifelt allerdings die Unabhängigkeit der Parteien - diese seien "zu sehr ins System verstrickt". Wünschenswert wäre es, dass sich vor allem die Gewerkschaften engagierten.

Der Fall und die Flucht Ben Alis werden Auswirkungen auf die gesamte Region haben: Der Erfolg der Proteste in Tunesien müsse anderen autokratisch regierenden Führern in der Region eine Warnung sein, sagt Nordafrika-Experte Atschy. "Weder Algerien noch Ägypten können ignorieren, was heute passiert ist." Auch in Algerien gab es in den vergangenen Wochen Proteste, auch dort leiden die Menschen unter der hohen Arbeitslosenquote und hohen Lebensmittelpreisen. Es gebe eine "eindeutige politische Ansteckungsgefahr", so Atschy. Vor allem in Ägypten, das seit Jahrzehnten von Husni Mubarak mit harter Hand regiert wird, müsse die Führungsriege angesichts der Ereignisse von Tunis in sich gehen. "Sie sollte Reformen und Freiheiten implementieren, bevor das Volk sie sich nimmt."

In Ägypten wird im Herbst dieses Jahres ein neuer Präsident gewählt. Noch ist fraglich, ob Mubarak Senior noch einmal antritt oder ob er seinen Sohn Gamal als Thronerben einsetzt. Bei Parlamentswahlen Ende vergangenen Jahres bereitete das Regime durch massive Fälschungen den Weg für den Wunschkandidaten des "Pharaos". Die Wahl wurde von Protesten begleitet, die der Staat mit massiver Polizeipräsenz allerdings kleinhielt.

Tunesien

"Ägypten wird länger brauchen als Tunesien, um aus seinem Dornröschenschlaf zu erwachen", so Atschy. In sei der Protest vor allem von der gut ausgebildeten Mittelschicht getragen worden. "Diese politisch aktive Klasse ist in Ägypten verschwindend klein."

ssu/puz/AFP/dpa
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