Anwältin: »Wie viele sind es momentan?«
Onalia Bueno: »Es sind 2170! Und 70 mit Covid!«"
Anwältin: »Warum wurden sie zu diesem Pier gebracht?«
Onalia Bueno: »Das ist Politik. Das entscheiden nicht die Kanarischen Inseln.«
Ein Morgen in Arguineguin, einem Fischerort an der Südküste Gran Canarias. Die Bürgermeisterin besucht das Erstaufnahmelager für Migranten. Immer mehr Flüchtlinge kommen hier an.
Onalia Bueno, Bürgermeisterin:
»Der Atlantik ist im Moment ruhig. Deshalb kommen jeden Tag Boote an. Spanien behandelt die Leute wie eine Ware, nicht wie Menschen. Wir erleben eine Migrationskrise. Es war vorherzusehen, dass diese Krise kommt, aber Spanien und die EU haben uns einfach den Rücken zugedreht.«
Die Menschen, die es hierher schaffen, werden zur Zerreißprobe der europäischen Migrationspolitik – ausgetragen auf Gran Canaria.
Onalia Bueno, Bürgermeisterin:
»Das Einzige, was ich von der Europäischen Union erwarte, ist, dass sie Spanien dazu bringt, dieses Migrationsproblem, das wir auf den Kanarischen Inseln haben, zu lösen. Man darf nicht vergessen, dass wir vom Tourismus leben.«
Die Zahlen steigen schnell – von im Schnitt nur rund 20 Flüchtlingen am Tag zu Beginn dieses Jahres auf mehr als 400 pro Tag Anfang November. Die Menschen stammen vor allem aus Marokko, Mali, dem Senegal und Guinea. Aus diesem Land hat sich auch Mabinty Toure auf den 2000 Kilometer langen Weg gemacht.
Mabinty Toure, Migrantin:
»Wir haben gelitten. Als ich klein war, sagte ich schon, dass ich von zuhause weggehen werde. Ich will ein besseres Leben.«
Mabinty Toure wuchs in einer Familie auf, die Kartoffeln und Reis auf dem Markt verkaufte. Der Vater hatte zwei Frauen, Mabinty ist eins von 18 Kindern. Bis zur achten Klasse ging sie in die Schule. Als das Familienoberhaupt starb, geriet die Familie in Geldnot.
Mabinty Toure, Migrantin:
»Ich bin die einzige von uns, die sich auf den Weg gemacht hat. Das Leid war irgendwann so groß, dass ich gegangen bin.«
Frauen haben es in Guinea besonders schwer. Jedes zweite junge Mädchen bis 18 Jahre wird zwangsverheiratet. Mehr als 95 Prozent aller Mädchen sind beschnitten, also genital verstümmelt. Das westafrikanische Land ist geprägt von Konflikten verschiedener Ethnien.
Mabinty Toure, Migrantin:
»Es gibt Orte, die geteilt sind. Wenn ein Malinke durch das falsche Gebiet fährt, kann er auf der Straße getötet werden. Die Politik in Guinea ist nicht gut. Es gibt viel Rassismus in unserem Land. Jemand kann dir Unrecht tun, und dann gehst du zur Polizei – aber die könnte er bestochen haben. Du kannst nichts machen: Wenn du nichts hast, bist du nichts.«
Seit Spanien und die EU die Kontrollen im Mittelmeer deutlich verschärft haben, weichen viele Flüchtlinge auf die südlichere Route von Westafrika auf die Kanaren aus. So auch Mabinty Toure. Drei Tage dauert die Überfahrt aus Dakhla in Westsahara nach Gran Canaria.
Mabinty Toure, Migrantin:
»Das war nicht gut, weil ich auf dem Boot gelitten habe. Mein Körper hat gebrannt. Ich hatte Angst vor dem Wasser. Irgendwann haben wir ein Boot gesehen, und die Leute auf dem Boot haben die Küstenwache gerufen.«
Mabinty Toure, Migrantin:
»Als wir ankamen, haben sie uns direkt am Ufer noch gezählt. Sie sagten uns, wir sollten unsere Kleider ausziehen, dann brachten sie uns neue. Wir waren dort sieben Tage. Am achten Tag sollten wir gehen, sie brachten uns ins Hotel Vistaflor. Sie gaben uns Essen. Sie gaben uns auch Kleidung und Wasser, um uns zu waschen.«
Da viele Hotels an der Südküste wegen der Corona-Pandemie leerstehen, haben die Behörden sie vorübergehend zu Flüchtlingszentren umfunktioniert. Die Einheimischen sehen die Flüchtlinge mit gemischten Gefühlen.
»Manchmal heißt es, wir Kanarier seien Rassisten. Aber wir sind keine Rassisten. Überhaupt nicht.«
»Es gibt viel Arbeitslosigkeit, viel Armut. Wegen Corona kommen momentan keine Touristen. Die Regierung hilft den Flüchtlingen ja schon. Aber wir können auch nicht allen helfen.«
»Jetzt wollen sie alle aus Marokko kommen, um hier zu arbeiten. Aber alle können hier nicht arbeiten.«
»Die Wirtschaft ist schon etwas beschränkt. Vor allem der Tourismussektor.«
Maria Dolores, Anwohnerin in Arguineguín:
»Ich arbeite als Reinigungskraft. Wir haben keine Arbeit, wir haben nichts. Die Situation wird immer schlechter. Ich denke, die Regierung muss Maßnahmen ergreifen. Für uns und für die Migranten auch! Sie sollen ihnen helfen. Ihnen geht es schlechter als uns. Das ist hier das Paradies für sie. Das war es mal – aber jetzt ist es kein Paradies mehr.«
Nun sollen die Hotels teilweise wieder für Touristen öffnen. Die Flüchtlinge müssten dann woanders hin. Aber aufs Festland will die spanische Regierung sie auch nicht holen, um keine Anreize für andere Fluchtwillige zu schaffen. In der Hauptstadt Las Palmas hat Richter Arcadio Díaz mit Flüchtlingen kurz vor ihrer Abschiebung zu tun.
Arcadio Días Tejera:
»Die Menschen flüchten, weil sie überleben und Hoffnung haben wollen. Und die Kanarischen Inseln sind am besten zu erreichen. Nach Gibraltar sind es (von Marokko aus) zwar nur 14 Kilometer. Aber die Preise sind höher und die Kontrollen viel schärfer. Deshalb hat sich die Route vom Mittelmeer auf den Atlantik verlagert. Dafür brauchen sie eine Woche oder zwei oder sogar drei. Manchmal verirren sie sich auf dem Ozean.«
Laut Hilfsorganisationen ist es die gefährlichste Fluchtroute Europas. Die Flüchtlingsboote müssen großen Handelsschiffen ausweichen, der Nordwind kann die kleinen Boote außerdem auf den offenen Ozean hinaustreiben. Seit Beginnen des Jahres sollen mehr als 550 Menschen verschwunden sein, die die Passage gewagt hatten. Außerdem könnten Spanien und die EU auch hier die Kontrollen verschärfen. Von Fluchtversuchen abhalten würde das viele Verzweifelte vermutlich nicht.
Arcadio Días Tejera:
»Egal, wie viele Flugzeuge, Boote oder Leute sie einsetzen: Die Kanarischen Inseln werden immer noch am selben Ort sein. Und der Migrationsdr uck – also die Pushfaktoren – werden dieselben bleiben. Der Schlüssel liegt in den Herkunftsländern. Die müssen sich entwickeln, damit die Menschen ihr Land nicht verlassen müssen, um ein menschenwürdiges Leben zu führen.«
In dem Frauenhaus, in dem Mabinty Toure inzwischen untergekommen ist, fühlt sie sich für den Moment sicher. Aber wie ihre Zukunft aussieht, weiß sie nicht.
Mabinty Toure, Migrantin:
»Wenn wir wegdürfen, können wir arbeiten. Aber hier stecken wir fest. Hoffentlich beten alle dafür, dass ich 2020 nicht wieder in Guinea lande.«