Er ist der große Favorit im Rennen um die Nachfolge von Premierministerin Theresa May: Doch mit diesem deutlichen Vorsprung dürfte auch Boris Johnson nicht gerechnet haben. Bei der ersten Fraktionsabstimmung im Machtkampf der britischen Tories hat der umstrittene Ex-Außenminister 114 von 313 Abgeordnetenstimmen erhalten.
Auf Rang zwei landete mit deutlichem Rückstand Außenminister Jeremy Hunt, der im Vergleich zu Johnson beim Dauerthema Brexit einen gemäßigten Kurs vertritt. Für Hunt votierten 43 Tory-Parlamentarier. Dritter wurde Umweltminister Michael Gove mit 37 Stimmen.
In einem mehrstufigen Verfahren bestimmen die Tories ihren künftigen Parteichef, der automatisch die bisherige Amtsinhaberin May auch auf dem Posten des Regierungschefs beerben wird. Zunächst sortiert die Fraktion Schritt für Schritt Kandidaten aus, bis nur noch zwei Bewerber übrigbleiben. Dann entscheiden die etwa 160.000 Parteimitglieder per Briefwahl.
In der ersten Abstimmungsrunde schieden drei der insgesamt zehn Anwärter aus: Die beiden Außenseiter Mark Harper und Esther McVey - und Andrea Leadsom, bis vor Kurzem in Mays Kabinett für Parlamentsfragen zuständig. Leadsom, die für einen harten Brexit wirbt, ist die Prominenteste unter den Verlierern. 2016 hatte sie es schon einmal versucht - und musste sich erst als letzte verbleibende Kontrahentin May geschlagen geben. Diesmal schien die Konkurrenz im Lager der Europakritiker jedoch zu groß. Ein Achtungserfolg gelang Rory Stewart. Der wohl konsequenteste EU-Anhänger im Bewerberfeld erhielt 19 Stimmen.
Doch vor allem Johnsons Erfolg ist deutlicher als erwartet. Schafft er es, nun auch die Stimmen für die anderen scharfen EU-Kritiker auf sich zu vereinen, hätte er die notwendige Gesamtmehrheit vermutlich beisammen. Um in die Urwahl zu gelangen, benötigt er in der letzten Abstimmungsrunde lediglich 105 Stimmen - dann wäre es nicht mehr möglich, dass zwei andere Kandidaten besser sind.
Die Dynamik in der Fraktion ist zwar nur schwer vorherzusehen. Und viele Tories halten den Skandal-Politiker für nicht geeignet als Premierminister. Doch Johnsons Vorsprung scheint gewaltig. Und wenn er das Fraktionsvotum übersteht, stehen seine Chancen besonders gut: Denn an der Basis ist Johnson erst recht beliebt.
Die nächste Abstimmung ist für nächsten Dienstag angesetzt. Spätestens am Donnerstag kommender Woche sollen die beiden finalen Kandidaten feststehen. Am 22. Juni soll die Urwahl beginnen, etwa einen Monat später wollen die Konservativen den Sieger bekanntgeben.
Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Michael Gove sei Gesundheitsminister. Das ist nicht richtig. Gove ist Umweltminister. Wir haben die Stelle korrigiert.
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Unter Tränen hatte die britische Premierministerin Theresa May ihren Rückzug aus der Spitzenpolitik ihres Landes angekündigt. Kurz darauf trat sie als Parteichefin zurück. Damit endet in Kürze auch ihre Amtszeit als Regierungschefin - sobald ein Nachfolger feststeht.
Der Machtkampf bei den britischen Tories ist nun offiziell eröffnet. Ex-Außenminister Boris Johnson gilt als Topfavorit - trotz aller Skandale und Peinlichkeiten in der Vergangenheit. Johnson gehört zum Lager der Brexit-Hardliner. Seine Kampagne startete er mit der Forderung nach Steuererleichterungen für Wohlhabende. In der Fraktion hat er bislang die meisten Unterstützer - allerdings auch viele Gegner.
Auch Außenminister Jeremy Hunt kandidiert. Er gilt als Vermittler, hat sowohl ins Lager der Brexit-Hardliner als auch zu den moderaten Tories Kontakte. So konnte sich Hunt nun die Unterstützung von Verteidigungsministerin Penny Mordaunt sichern, einer scharfen EU-Kritikerin, die lange selbst als Kandidatin gehandelt worden war. Zugleich stellte sich die europafreundliche Arbeitsministerin Amber Rudd hinter ihn. Hunt ist neben Johnson bislang der aussichtsreiche Bewerber.
Innenminister Sajid Javid zählte längere Zeit zum engeren Favoritenkreis für den Tory-Chefposten. Doch Kritik an seiner Politik ließen seine Chancen im Machtkampf sinken. Doch entschieden ist natürlich noch lange nichts. Mit der Unterstützung durch die schottische Tory-Chefin Ruth Davidson sicherte sich Javid jüngst einen Achtungserfolg.
Auch der ehemalige Brexit-Minister Dominic Raab hat sich offiziell um die May-Nachfolge beworben. Er steht für einen scharfen Brexit-Kurs. Einen Austritt ohne Abkommen hält er für "vertretbar".
Mit 40 Jahren ist er der jüngste unter den gehandelten Kandidaten: Gesundheitsminister Matt Hancock gilt als moderat. Ein Brexit-Fan ist er sicher nicht - auch wenn er den Austritt trotzdem umsetzen will. Er selbst sagt, er stehe für einen Neustart.
2016 fiel er seinem Weggefährten Boris Johnson in den Rücken und verhinderte dessen Kandidatur - seither hat Michael Gove einen schweren Stand bei den Tories. Als Umweltminister präsentierte er sich deshalb besonders loyal und konnte so etwas an Ansehen zurückgewinnen. Allerdings brachte ihn zuletzt sein Kokain-Geständnis in die Bredouille. Am Tag der offiziellen Bekanntgabe seiner Kandidatur bemühte sich Gove, erneut in die Offensive zu gelangen - mit scharfen Attacken gegen Johnson. Einst Brexit-Hardliner steht Gove mittlerweile für einen moderaten Kurs.
Rory Stewart folgte auf Penny Mordaunt als Entwicklungshilfeminister. Stewart hat schon vor Mays Abschiedserklärung seine Ambitionen bekannt gegeben. Doch der Proeuropäer bleibt Außenseiter.
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