Großbritannien Teflon-Tony ist das geringere Übel
London - "Six Bells on the Green" heißt der Pub in Warborough in der Grafschaft Oxfordshire, wo sich der konservative Kandidat Boris Johnson mit seinen Wahlhelfern zum Mittagessen zurückgezogen hat. Rund um den Kamin hängen Bilder mit Jagdszenen, und der Wirt in diesem idyllischen ländlichen Wahlkreis steht ganz auf der Seite seiner Gäste: "Ich will", feuert er die Tories an, "meine Königin, mein Land und mein Pfund behalten!"
Die Konservativen haben solche moralische Unterstützung bitter nötig. Zwar werden sie in Oxfordshire - eine Art Oberbayern ohne Berge - ihren Sitz verteidigen können, doch von solch raren Hochburgen abgesehen könnte es für sie am 7. Juni noch schlimmer kommen als im Mai 1997. Damals vertrieben Tony Blair und die Labour Party sie mit einer Mehrheit von 173 Sitzen von der Regierungsbank im Unterhaus.
Dank des britischen Mehrheitswahlrechts reichten New Labour dafür 44,3 Prozent der Stimmen. Auch wenn die Regierungspartei in den Meinungsumfragen in den letzten Tagen ein wenig verliert, lag sie noch immer knapp unter 50 Prozent.
Hinter vorgehaltener Hand geben es auch die Tories in Oxfordshire zu: Ihr Spitzenkandidat William Hague, 40, ist ein hoffnungsloser Fall. Er hat Angst vor Journalisten und und meidet sie, wo er nur kann. Wenn er Wahlkampfkundgebungen abhält, dann vor handverlesenen Parteifreunden und - um Störern zu entgehen - notfalls auf abgelegenen Parkplätzen.
"Ein Haufen Lügen"
Im Vergleich zu dem uncharismatischen Glatzkopf ist Tony Blair, 48, für die meisten Briten das geringere Übel - auch wenn die Popularität des Premierministers seit Anfang vergangenen Jahres unaufhaltsam sinkt. Besonders alten Labour-Anhängern geht der eitle und glatte "Teflon-Tony" zunehmend auf den Geist.
Wie Blair seinen Wahlkampf startete, war wieder ein Paradebeispiel dafür, dass für New Labour die Präsentation alles, der Inhalt nichts ist. Vor Kirchenliedern singenden Mädchen in einer Schule in Süd-London verkündete der Premier den Wahltermin und verhieß, dass er die Schulen "radikal" verbessern werde. Auf die Frage, was sie von der Rede Blairs halte, antwortete eine schwarze Schülerin: "Ein Haufen Lügen."
Besonders das pathetische Moralisieren im Stile eines Landpfarrers - nicht umsonst bringt die Satirezeitschrift "Privat Eye" in jeder Ausgabe den Gemeinderundbrief von "Reverend Tony" - nervt immer mehr Briten. Dagegen kann auch Ex-Spice-Girl Geri Halliwell - einst eine glühende Thatcher-Anhängerin - wenig ausrichten. Sie trat jetzt in einem Labour-TV-Spot auf und bekannte: "Ich bewundere Tony Blair."
Im Wahlkampf tätschelt der vierfache Vater hermetisch vom Wahlvolk abgeschirmt vor Fernsehkameras grinsend Kinderköpfe und kündigt ansonsten eine Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen an.
Blair hält an Privatisierungen fest
Das hat er bereits im Wahlkampf vor vier Jahren getan, nur die Erfolge seiner ersten Amtsperiode nehmen sich im Vergleich zu den vollmundigen Versprechungen ziemlich jämmerlich aus. Zwar wurden die Standards in den heruntergekommenen staatlichen Grundschulen ein wenig verbessert, doch die Oberschulen leiden weiter unter Lehrerflucht und krassem Finanzmangel.
Auch bei dem krankgesparten Gesundheitssystem, sind keine Verbesserungen spürbar. Die Regierung, die den Abbau der Wartelisten für Facharzt- und Operationstermine zur obersten Priorität erhoben hat, kann nach vier Jahren zwei Nachrichten verkünden. Die gute besagt, dass die Wartlisten seit Mai 1997 um über 120.000 Namen verringert wurden; die schlechte, dass noch immer über eine Million Briten auf diesen Listen zu finden sind. Bleibt es bei diesem Tempo, dann können in 33 Jahren alle potenziellen Patienten sofort einen Platz im Hospital bekommen.
Um das Gesundheitssystem zu verbessern, will Tony Blair es nach der Wahl zunehmend privatisieren - ein Wort bei dem zumindest die Briten, die regelmäßig mit der Eisenbahn fahren, zusammenzucken. Die privatisierte britische Bahn ist die teuerste der Welt, doch ihre Zuverlässigkeit ist so erbärmlich wie nirgendwoanders in Europa. Und obwohl mehr als zwei Drittel der Briten sich für eine "Renationalisierung" aussprechen, will die Regierung unbedingt die Londonder U-Bahn auch nach einem ähnlichen Modell privatisieren.
New Labour - rechts von der CDU
Der Parteiname "Labour" (Arbeit) ist mittlerweile reiner Etikettenschwindel. Die historischen Wurzeln in der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung haben Blair und seine New-Labour-Strategen derart radikal gekappt, dass die 101 Jahre alte Partei im deutschen politischen Spektrum in vielem rechts von der CDU stünde. So wuchs auch die Kluft zwischen Reichen und Armen unter Blair noch schneller als unter den Konservativen. Und was die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen angeht, sind Blair und seine New-Labour-Strategen noch eifriger als Margaret Thatcher.
Ein klarer Unterschied zwischen Labour und den Tories lässt sich nur beim Thema Europa ausmachen. Während die Konservativen entweder gegen den Beitritt zum Euro sind oder gleich aus der EU austreten wollen, ist Blair im Prinzip für die Übernahme des Euro, traut sich aber nicht, das auch laut zu sagen.
Die Briten werden deshalb an ihrem Pfund festhalten solange die Wirtschaft so gut läuft wie zur Zeit. Und die solide Finanzpolitik von Schatzkanzler Gordon Brown ist auch die entscheidende Labour-Wahlkampfwaffe. Die Arbeitslosigkeit ist mit 5,1 Prozent so gering wie seit 26 Jahren nicht mehr, die Inflationsrate die niedrigste in der EU. Da der Labour-Wahlkampf-Chef Brown aus den Fehlern Al Gores gelernt hat, preist er pausenlos die gute Wirtschaftslage.
Politik mit Brustimplantaten
Im Vergleich zu den beiden großen Parteien machen die Liberaldemokraten, die bei der letzten Wahl 17,1 Prozent der Stimmen erhielten aber nur auf 46 Sitze kamen, den seriösesten Eindruck. Ihr Chef Charles Kennedy - ein sympathischer Kettenraucher aus Schottland - ist der einzige Spitzenpolitiker, der den Briten die Binsenweisheit zumutet, dass sie für bessere öffentliche Dienstleistungen auch höhere Einkommenssteuern bezahlen müssen. Die Liberalen dürften aus dem Verdruss der Wähler der großen Parteien profitieren.
Darüber hinaus buhlen zahlreiche Klein-Parteien um die Gunst der Protestwähler. So tritt die 1963 von dem inzwischen verstorbenen Rock'n'Roll-Sänger Screaming Lord Sutch begründete "Official Monster Raving Loony Party" wieder in 15 Wahlkreisen an. "Wir sind optimistisch", erklärte ein Sprecher, "dass die Loony Party so spektakulär erfolglos bleiben wird wie immer."
In Manchester können Unzufriedene aller Couleur das artifizielle Busen-Wunder und Seite-3-Model Jordan, 23, wählen. Die Hauptforderung der Freundin des Fußball-Stars Dwight York und unabhängigen Kandidatin: kostenlose Brustimplantate.