Tories und Labour bei der EU-Wahl Die Verzwergung der Mächtigen

Noch-Premierministerin Theresa May
Foto: Kirsty Wigglesworth/DPADie Anführer der beiden derzeit erfolgreichsten Parteien in Großbritannien sitzen sich am Mittwoch in einem Studio des "Daily Telegraph" gegenüber. Das Blatt überträgt die Debatte live im Netz. Es geht um die großen Themen. Um Einwanderung. Um die Wirtschaft. Natürlich um den Brexit.
Mit einem Sieg, sagt Nigel Farage, "machen wir alle Gedanken über ein zweites Referendum zunichte".
"Ich will Stabilität und Sicherheit. Das haben wir in der Europäischen Union", erwidert Vince Cable.
Klarer wird es nicht beim Überthema EU-Austritt. Raus ohne Kompromisse - oder am besten drin bleiben. Es sind zwei Außenseiter-Parteien, die im Königreich inzwischen den Ton setzen und den Briten nach all den Chaos-Monaten die einfachsten Antworten geben. Mit Erfolg.
Cable führt die Liberaldemokraten, eine Partei mit gerade einmal elf Sitzen im Unterhaus - von insgesamt 650. Farage ist Chef der Brexit-Party, die überhaupt erst seit einigen Monaten existiert.
Kurz vor der EU-Wahl aber - die Briten wählen bereits am Donnerstag - kletterte die Brexit-Partei in den Umfragen auf 37 Prozent. Platz eins. Dahinter folgen die Liberalen mit 19 Prozent.
Die Premierministerin dagegen ist womöglich bald Chefin der nur fünftgrößten britischen Kraft in Europa. Theresa May und ihren Konservativen droht am Donnerstag ein Debakel. Die Tories müssen sich auf ein einstelliges Ergebnis bei der EU-Wahl einstellen, sieben Prozent laut Yougov-Umfrage. Kaum besser ergeht es Labour, der eigentlich großen Oppositionspartei. Sie steht bei 13 Prozent.
In Großbritanniens Demokratie herrscht eigentlich die Zwei-Parteien-Politik. Das britische Mehrheitswahlrecht benachteiligt kleinere Kräfte. Allein die Sieger in den Wahlkreisen ziehen bei Nationalwahlen ins Parlament ein. Der Rest geht leer aus. Das prägt die politische Kultur.
Seit Jahrzehnten bestimmen deshalb Tories und Labour die Politik. Doch diesmal, so scheint es, steht die britische Politik Kopf.
Streit dominiert
Tories und Labour können sich einfach nicht aus dem Brexit-Dilemma befreien. Beide Parteien sind tief gespalten, zerrissen zwischen Brexit-Hardlinern, Moderaten und jenen, die vom Austritt gar nichts halten.
Regierungschefin May bemühte sich vergeblich, EU-Gegner und Proeuropäer bei den Tories zusammenzubringen. Dreimal scheiterte ihr mit Brüssel ausgehandelter Ausstiegsdeal im Unterhaus. Doch auch Labour ist nicht einig. Ein Teil will noch einmal das Volk abstimmen lassen. Andere lehnen das ab.
Die Folge: Die mächtigsten Lager Großbritanniens sind in der historischen Brexit-Frage unkenntlich geworden.

Theresa May bei der wöchentlichen Fragestunde im Unterhaus
Foto: House Of Commons/ dpaVor den Abgeordneten versucht es May am Mittwoch ein weiteres Mal. "Am Ende ist es unser Job in diesem Haus, Entscheidungen zu fällen", mahnt sie. Am Vortag hat sie erklärt, wie sie ihren Deal durchs Parlament bekommen will. Es sind Angebote dabei, in denen sich alle wiederfinden sollen.
Video: May bietet neuen Deal an
May stellt eine Abstimmung über ein zweites Referendum in Aussicht. Sie verspricht ein Gesetz zum Schutz der Arbeitnehmerrechte. Die Abgeordneten sollen über Alternativen bei der Zollunion entscheiden. Auch beim Backstop will May noch einmal nachbessern - der umstrittenen Sonderlösung für Nordirland.
Es ist Mays verzweifelter Versuch, ihre Brexit-Mission doch noch zu erfüllen. Dass sie nicht mehr lange im Amt bleiben wird, ist längst klar. Doch ihre Widersacher interessieren sich kaum noch für die Offerten der Premierministerin. Sofort werden ihre Vorschläge von allen Seiten abgeschmettert. Von den Brexiteers. Von den Proeuropäern. Von Labour. Die Führungsschwäche bei den Tories hat sicher ebenfalls zum Absturz der Partei beigetragen.

Rechtspopulist Nigel Farage
Foto: ANDY RAIN/EPA-EFE/REXSchon einmal mussten die Tories erleben, wie eine dritte Partei in ihrem Lager wilderte. Bei der Europawahl 2014 wurden die Rechtspopulisten von Ukip zur stärksten Kraft, ausgerechnet mit Nigel Farage, dem heutigen Kopf der Brexit-Partei.
Zu jener Zeit konnten sich die Tories schnell von dem Schock erholen. Diesmal aber erscheint die Lage gravierender. Farage verspricht gar ein Ende der Zwei-Parteien-Politik. Ist das möglich?
Stimmung kann sich ändern
"Die Wahl findet diesmal unter besonderen Vorzeichen statt", sagt Nicolai von Ondarza, Politologe der Stiftung Wissenschaft und Politik. Da die Briten die EU bald verlassen wollen, gehe es nun vor allem um Protest. "Es spielt im Grunde überhaupt keine Rolle, welche Politik im Parlament gemacht werden soll."
Soll heißen: Die Stimmung kann sich auch wieder ändern, wenn der Brexit vom Tisch ist. Zumal bei Nationalwahlen, wenn die Großen wieder stärker bevorteilt werden als bei den jetzigen EU-Abstimmungen.

"Stop Brexit": Liberalen-Chef Vince Cable vor Anhängern
Foto: Jeff J Mitchell/Getty ImagesNur: Der Brexit wird so schnell nicht verschwinden. Selbst nach einem Austritt. Dann müsste London mit der EU ein Freihandelsabkommen vereinbaren. Und das dürfte Jahre dauern.
"Parteiloyalität erodiert"
Man müsse vorsichtig sein mit voreiligen Schlüssen, sagt Tim Bale, Professor an der Londoner Queen Mary University. Allerdings sei es ungewöhnlich, dass beide großen Parteien gleichzeitig in solche Schwierigkeiten geraten. Und: "Seit Jahrzehnten erodiert die Parteiloyalität", sagt Bale. Es könne durchaus Veränderungen geben, wie es sonst "vielleicht einmal in hundert Jahren" vorkommt.
Viel hänge auch davon ab, wer bei den Tories auf May folgen wird, betont der Oxforder Wahlforscher Stephen Fisher. Küren die Konservativen einen Hardliner zum Parteichef, etwa Boris Johnson, "würde das fundamental das Bild der Partei und den Charakter ihrer Wählerbasis ändern".
Am Mittwoch kursieren immer mehr Berichte über Treffen von Kabinettsmitgliedern, die May zum schnellen Rücktritt drängen wollen. Haben sie Erfolg, bliebe wohl auch die für Anfang Juni angepeilte Abstimmung über den Brexit-Deal aus.
Doch klar ist: Der künftige Premierminister wird wieder vor denselben Problemen stehen. Er wird ein Parlament vorfinden, das gespalten ist - und eine EU, die keine weiteren Kompromisse eingehen will. Die Fronten bei Labour und Tories werden nicht ohne Weiteres aufweichen. Gute Zeiten für extreme und kleine Parteien mit scharfem Profil.