
Zehntausende bei Anti-Putin-Demo: "Jungs, es ist Zeit zu gehen"
Großdemonstration in Moskau Russlands Erwachen
Andrej hat sich eine weiße Schleife an das Revers seines Mantels geheftet, als Zeichen seines Protests. "Weiß ist die Farbe der Reinheit", sagt der 21-jährige Moskauer. "Das soll zum Zeichen werden, dass wir genug haben von Dreck und Betrug. Wir wollen Veränderung und die Wahrheit." Seine Freundin Walentina trägt einen Strauß weißer Chrysanthemen.
Viele der Menschen, die am Samstag zum Bolotnaja-Platz im Herzen Moskaus strömen, tragen Blumen oder weiße Bänder.
Über den Baumwipfeln schimmern golden die Kuppeln des Kreml. Dorthin will Wladimir Putin nach den Präsidentschaftswahlen im März zurückkehren. Doch sein Weg dorthin droht steinig zu werden. "Fort mit Putin" und "Putin ist ein Dieb", skandieren die Menschen auf dem Bolotnaja-Platz.
Proteste gegen Russlands starken Mann gibt es seit Jahren. Mal kamen 5000 zu den Kundgebungen, aber meistens waren es nur ein paar hundert. Das ist nun anders. Selbst der rund 700 Meter lange Bolotnaja-Platz ist nicht groß genug, um die Masse der Unzufriedenen zu fassen.
Sie stauen sich auf der Luschkow-Brücke, die über einen Kanal auf den Platz führt und von der die Polizei zwischenzeitlich befürchtet, sie könnte unter der Menschenmenge zusammenbrechen. Sie stehen auch am gegenüberliegenden Kanalufer, weil sie keine Chance mehr haben, auf den Platz zu gelangen. Die Polizei spricht von 25.000 Teilnehmern, die Veranstalter von 100.000. Die Wahrheit liegt dazwischen, wahrscheinlich sind es rund 50.000.
Erst in Blogs protestiert, jetzt auf der Straße
Junge Männer klettern an Bäumen hoch, um einen Blick auf die winzige Bühne auf dem Platz zu erhaschen. Eine so große Demonstration hat Russland seit Anfang der neunziger Jahre nicht mehr gesehen. Ursprünglich war die Demonstration für 300 Menschen geplant.
Am Montag nach der Parlamentswahl hatten die Proteste gegen die nach OSZE-Urteil "weder freie noch faire" Abstimmung begonnen, bei der Putins Partei "Einiges Russland" laut offiziellem Ergebnis gut 49 Prozent erreichte.

Zehntausende bei Anti-Putin-Demo: "Jungs, es ist Zeit zu gehen"
Wie Walentina und Andrej sind vor allem junge Leute gekommen, eine neue Generation, die mit dem Internet, aber ohne Erinnerungen an die Sowjetunion aufgewachsen ist. Ihr Unmut über die Zustände brach sich bislang aber ausschließlich im virtuellen Raum Bahn, in Blogs und auf Twitter. Nun tragen sie den Protest zum ersten Mal massenhaft auf die Straße.
Auf Facebook und dem russischen sozialen Netzwerk Vkontakte.ru haben sie sich für die Demo verabredet. "Wir gehen auf die Straße, damit die Staatsmacht uns endlich registriert. Hier sind wir. Und wir gehen nicht wieder weg, denn es reicht", sagt Andrej. "Erwachen des Bewusstseins" nennt er das.
Rund 50.000 Mann hat das russische Innenministerium im Moskauer Stadtzentrum für die Demonstration aufmarschieren lassen. Helikopter kreisen über dem Platz. Der Kreml behält gern den Überblick. Über den Köpfen der Demonstranten aber surren noch andere Flugobjekte: fußballgroße und mit Kameras ausgestattete Drohnen. Nicht Russlands Inlandsgeheimdienst FSB setzt sie ein, um die Rebellen zu überwachen, sondern russische Blogger. Sie übertragen die Luftaufnahmen von der Demo live ins Internet, weil das staatlich kontrollierte Fernsehen Berichte über Kundgebungen der Opposition bislang stets totschwieg.
Walentina und Andrej haben ihren Fernseher schon vor drei Jahren weggeworfen, "weil das Programm aus Bürgern Zombies macht".
"Staatsmacht und Gesellschaft stehen vor wichtigem Test"
Vorne steigt der Schriftsteller Dmitrij Bykow auf die Bühne. "Viele fragen mich, wie das hier bloß enden soll", ruft er. "Ich aber sage euch: Das hier hört nicht auf." Der Platz jubelt. Dann branden wieder "Russland ohne Putin"-Rufe auf und auch vereinzelt Forderungen nach einem Umsturz. Andrej stimmt nicht in sie ein. Er hofft, dass Russland ohne eine Revolution den Weg zur Demokratie einschlägt. "Es gibt keine Möglichkeit für einen schnellen Machtwechsel", sagt er.
So denken viele auf dem Platz: Der jahrelange Druck des Kreml habe die Opposition ausbluten lassen, so dass sie überfordert wäre, käme sie sofort an die Macht.
"Wir brauchen freie Wahlen, damit sich eine neue Generation von Politikern in einem neuen Parlament beweisen kann", sagt Andrej. Die Demonstranten auf dem Bolotnaja-Platz stellen dem Kreml deshalb ein Ultimatum: Zwei Wochen Zeit soll Russlands Führung bekommen, um Neuwahlen anzukündigen, und für eine Reform des Wahlgesetzes. "Sonst kommen wir wieder", sagt Walentina. Dann geht sie mit Andrej nach Hause.
Nikita Belych, der früher selbst einmal als Führer der Opposition auf Demonstrationen abgeführt wurde, dann aber von Präsident Medwedew zum Provinzgouverneur ernannt wurde, hatte vor der Demonstration Besonnenheit angemahnt: Staatsmacht und Gesellschaft stünden vor einem wichtigen Test. "Man muss ihn bestehen, ohne Blutvergießen, Beleidigungen, Hysterie und Gewalt", warnte er.
Russlands Innenministerium hat Moskaus Zentrum in eine Drohkulisse aus Absperrungen, Truppentransportern und Polizisten mit Helmen und Schlagstöcken verwandelt. Anders als bei den Demonstrationen am Anfang der Woche halten sich die Sicherheitskräfte am Samstag aber im Hintergrund. "Die Polizei ist sehr höflich", twittert ein Kreml-kritischer Blogger. Am Abend berichtet sogar das Staatsfernsehen über die Großdemo.
Es scheint, als habe Russland am Samstag eine Prüfung bestanden. Die schwierigsten aber stehen dem Land noch bevor.