Haiti und der Westen Wie die Katastrophe zur Chance werden kann

US-Hilfe für Haiti: Mit Mensch und Maschine
London/Berlin - Als Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon und der frühere US-Präsident Bill Clinton im März 2009 Haiti besuchten, brachten sie nicht nur den von der Insel stammenden Rapper Wyclef Jean mit. Sie fanden auch viele aufmunternde Worte für ihre jungen Zuhörer.
Haiti sei früher eines der reichsten Länder in der Region gewesen, sagte Clinton. "Ihr könnt es wieder werden, dank der Ressourcen in Herzen und Köpfen." Ban sprach von einem "Fenster der Gelegenheit", das den Haitianern gerade offenstehe, weil 9000 Uno-Blauhelme den Frieden auf der Insel sicherten. Obendrein biete das neue Freihandelsabkommen "Hope 2" den lokalen Kleinbauern zollfreien Zugang zum US-Markt.
Was die beiden Besucher aus dem Norden nicht erwähnten: Die internationale Gemeinschaft ist am Elend auf der Insel nicht unschuldig.
Seit Jahrzehnten trägt der kleine Karibikstaat das Attribut "ärmstes Land der westlichen Hemisphäre". Und der Rest des Westens hat - ob absichtlich oder unfreiwillig - dazu beigetragen, dass das so bleibt. Auch deshalb stehen die Menschen nach dem Erdbeben nun hilflos vor den Trümmern, fehlen Ärzte und Rettungsinfrastruktur. "Die internationale Gemeinschaft ist zu einem großen Teil verantwortlich für das Leiden, was sie nun bekämpfen will", sagt Peter Hallward, Autor des Buchs "Damming the Flood: Haiti, Aristide and the politics of containment".
Die westliche Entwicklungsideologie der neunziger Jahre ("Washington Consensus") hatte in Haiti besonders schlimme Folgen. Unter anderem wurde die heimische Reisproduktion binnen weniger Jahre nahezu zerstört. Die US-Regierung unter Clinton verhalf dem vom Militär weggeputschten Präsidenten Jean-Bertrande Aristide 1994 wieder ins Amt - aber nur unter der Bedingung, dass er den Importzoll für Reis von 50 auf 3 Prozent reduziert. Bis dahin hatte Haiti vier Fünftel seines Reisbedarfs aus eigenem Anbau gedeckt. Nach dem Fall der Zollschranke schwemmten US-Firmen die Insel mit Billigimporten. Der Preisverfall machte 40.000 Bauern arbeitslos. Heute importiert Haiti mehr als zwei Drittel seines Reises.
Ähnlich sei es Mitte der neunziger Jahre mit der größten Zuckerfabrik des Landes gelaufen, sagt Hallward. Sie wurde im Zuge der von den USA geforderten Privatisierung an eine der reichsten Familien der Insel verkauft - die sie prompt dicht machte und sich fortan über ihr Importmonopol für Zucker bereicherte.
Schweres Erbe der Duvalier-Diktatur
Dazu kommt, dass das Erbe der Duvalier-Diktatur bis heute nachwirkt. Vater und Sohn Duvalier, genannt "Papa Doc" und "Baby Doc", beherrschten den Staat durchgehend von 1957 bis 1986. Sie hätten das Land wie ein Privatunternehmen für eigene finanzielle Interessen benutzt, sagt Günther Maihold, Lateinamerika-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Bis heute sei die Trennung zwischen öffentlich und privat in der Gesellschaft nicht verankert. "Der Staat wird nicht als öffentlicher Akteur gesehen, sondern soll den Interessen der Mächtigen dienen", sagt Maihold.
Der Staat konnte in der über 200-jährigen Geschichte des unabhängigen Haitis nie funktionierende Institutionen entwickeln. Steuern werden kaum eingetrieben, für die Sicherheit der Bevölkerung wird immer wieder ausländische Hilfe in Anspruch genommen. In Krisen wird zuerst nach den Hegemonialmächten Frankreich und USA gerufen.

Haiti nach dem Beben: Helfer bergen Tausende Tote
Die Schwäche des Staates machen sich nicht zuletzt ausländische Unternehmen zunutze. Die Ansiedlung von kanadischen und US-amerikanischen Textilfabriken, die in den achtziger Jahren unter "Baby Doc" Duvalier begann, konnte die Armut nicht verringern. Im Gegenteil: Das Lohnniveau zwischen 1980 und 2000 sank dramatisch. Der Mindestlohn lag jahrelang bei zwei Dollar pro Tag. Vor kurzem wurde er auf vier Dollar angehoben - eine Erhöhung auf fünf Dollar pro Tag lehnte die Regierung unter Druck der ausländischen Investoren ab. Im Nachbarland Dominikanische Republik liegt der Tageslohn bei neun Dollar.
Einseitige Schuldzuweisungen an den Westen hält Maihold jedoch für "hoch problematisch". Haiti sei von der internationalen Gemeinschaft schließlich auch massiv gefördert worden, gibt er zu bedenken. Einige Experten halten das Land gar für "overfunded", für überfördert.
Erdbeben macht Aufbruchstimmung zunichte
Als einer der Hauptgründe für die anhaltende Wirtschaftsmisere gilt der Mangel an Infrastruktur. Fortschritte werden von der Natur immer wieder zunichte gemacht. Die Hurrikane, die regelmäßig über die Karibik fegen, wüten auf Haiti besonders stark, weil die Insel fast vollständig abgeholzt ist. Das Land lebt im ständigen Ausnahmezustand. Allein seit 1994 wurde es von fünf schweren Katastrophen heimgesucht.
Das Erdbeben sei nun besonders tragisch, weil sich im vergangenen Jahr so etwas wie Zuversicht breitgemacht habe, sagt der Deutsche Jean-Louis Warnholz, der die haitianische Regierung in Wirtschaftsfragen berät. Auf Investorenkonferenzen habe es Aufbruchstimmung gegeben. Die Regierung wollte 150.000 neue Jobs schaffen, vor allem in der Landwirtschaft und der Textilindustrie.
Auch der Tourismus begann sich langsam zu entwickeln. Am Strand von Labadee im Norden ist ein Anleger für Kreuzfahrtschiffe entstanden, mitsamt einem 60 Millionen Dollar teuren Vergnügungskomplex. Der Flughafen des nahe gelegenen Cap Haitien soll ausgebaut werden, damit auch große Flieger aus Miami landen können. Erste Hotelketten wagen sich in das lange als gefährlich verrufene Land. In Port-au-Prince wurde das Luxushotel Montana eröffnet - das beim Erdbeben nun eingestürzt ist.
Als Zugmaschine des Wirtschaftswachstums war vor allem die Textilindustrie vorgesehen. Warnholz sagt, inzwischen würden nicht mehr nur T-Shirts, sondern auch höherwertige Produkte wie Damenunterwäsche und Levi's-Jeans hergestellt. Doch die meisten Fabriken liegen in Port-au-Prince - dem Epizentrum des Bebens. Auch einer der beiden Häfen wurde zerstört.
Regierungsberater fordert milliardenschweren Marshall-Plan
Das Beben sei ein "schwerer Rückschlag" für die Wirtschaft, sagt Warnholz. Mit Oxford-Professor Paul Collier fordert er nun einen "Marshall-Plan" für Haiti. Dass die Interventionen der internationalen Gemeinschaft in den vergangenen Jahren nicht immer günstig für Haiti waren, findet auch der Experte. Deshalb müsse die Hilfe nun nachhaltig sein. Es dürften nicht im Eiltempo Notbehausungen hochgezogen werden, die beim nächsten Sturm schon wieder einstürzen. Warnholz fordert Investitionen in Höhe von mehreren Milliarden Dollar, wie in Aceh nach dem Tsunami 2004. Dann könnten die acht Millionen Haitianer hoffen, dass das Beben noch zum positiven Wendepunkt für sie werde.
Die Geschichte bietet reichlich Anlass zum Zweifeln - aber vielleicht klappt es ja diesmal tatsächlich. US-Präsident Barack Obama hat sich an die Spitze der internationalen Helfer gesetzt. Und auch Ban Ki-Moon und Bill Clinton haben schon ihren Besuch auf der Insel angekündigt.
Sie könnten beweisen, dass die internationale Gemeinschaft aus ihren Fehlern gelernt hat.