Genscher und der Fall Chodorkowski Mission Freiheit

Genscher und der Fall Chodorkowski: Mission Freiheit
Foto: REUTERS/ The New Times/ Yevgenia AlbatMoskau - Ein Jahrzehnt hat Kreml-Gegner Michail Chodorkowski in russischen Gefängnissen verbracht, seine ersten Tage als freier Mann verbringt er nun in Berlin. Seinen ältesten Sohn Pawel konnte er am Samstag bereits begrüßen, auch seine Eltern sind von Moskau nach Deutschland gekommen, um endlich ihren Sohn in die Arme zu schließen.
"Das Wichtigste ist jetzt: Freiheit, Freiheit, Freiheit", so fasste Chodorkowski seine Gemütslage gegenüber dem Magazin "The New Times" zusammen. Er empfinde ein "unglaubliches Gefühl" der Freiheit: Nach seiner für Beobachter überraschenden Begnadigung war er am Freitag per Privatjet in die deutsche Hauptstadt ausgeflogen worden.
Jahrelange Geheimverhandlungen haben dies möglich gemacht. Im Zentrum der Mission: der frühere deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher. So war es Genscher, der Chodorkowski am Freitag am Flughafen Berlin-Schönefeld abholte.

Freigelassener Chodorkowski: Wiedersehen mit der Familie
Laut "Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung" ("FAS") hatte Genscher Putin zu einem persönlichen Gespräch im Juni 2012 in Berlin auf dem Flughafen Tegel getroffen. Putin hatte damals nach seiner Wiederwahl einen Antrittsbesuch in Deutschland gemacht. Das Treffen fand unbemerkt von der Öffentlichkeit statt.
Die Piloten konnten ohne Visum nach Moskau fliegen
Anfang des Jahres traf Genscher Putin in der Angelegenheit ein zweites Mal in Moskau. Vor etwa zwei Monaten erwartete er dann laut "FAS", dass Chodorkowski freikommen könnte. Genscher fragte daraufhin den mit ihm befreundeten Unternehmer Ulrich Bettermann, ob jener mit einem seiner Privatjets Chodorkowski in Russland abholen könne, wenn es zu einer Freilassung komme. Laut "FAS" hatte Putins Präsidialbüro am Freitag nach einer Bitte Genschers entschieden, dass Bettermanns Piloten ohne Visum nach Russland fliegen konnten.
Dann die Ankunft in Berlin. Auf dem Rollfeld in Schönefeld stand neben Chodorkowski und Genscher Alexander Rahr, Politologe und in Moskau gut vernetzter Russland-Experte. Er hat Genscher in den vergangenen Monaten beraten und enthüllt nun Details der heiklen Mission, die über geheime Kanäle zwischen Deutschland und Russland lief.
Vor zweieinhalb Jahren sei Genscher an ihn herangetreten, sagte Rahr zu SPIEGEL ONLINE. Auf Bitten der Anwälte kümmere er sich politisch um den Fall, habe der FDP-Politiker gesagt. "Er wolle in Gesprächen mit der russischen Seite erreichen, was andere nicht geschafft haben, nämlich Chodorkowski freizukriegen", sagte Rahr. Die Angelegenheit sei streng vertraulich gewesen. "Ich musste ihm mein Ehrenwort geben, dass ich mit niemandem darüber reden würde."
"Triumph der deutschen Geheimdiplomatie"
Beteiligt an der Operation waren unter anderem auch Ex-Außenminister Guido Westerwelle und der deutsche Botschafter in Moskau, Ulrich Brandenburg. Mit Kanzlerin Angela Merkel habe sich Genscher in dieser Zeit eng ausgetauscht, so Rahr.
Der Politologe lobt Genschers Vorgehen ausdrücklich: "Er hat glänzend gearbeitet. Es war extrem wichtig, dass seine vielen Treffen mit der russischen Führung nicht an die Öffentlichkeit gelangten. Nur so konnte die Mission ein Erfolg werden." Die Freilassung Chodorkowskis sei auch ein "Triumph der deutschen Geheimdiplomatie". Sie zeige, dass Berlin in Moskau über Kanäle verfüge, die Briten oder Amerikaner nicht hätten.
Chodorkowski dankte in einer Erklärung nach seiner Freilassung seinen zahlreichen Unterstützern. "Mein besonderer Dank gilt Herrn Hans-Dietrich Genscher", schrieb Chodorkowski, "für seine persönliche Anteilnahme an meinem Schicksal."
"Freiheit, Freiheit, Freiheit"
Für viele Beobachter waren Begnadigung und Freilassung überraschend gekommen - war doch in den vergangenen Monaten in Moskau sogar über einen weiteren Prozess gegen den früheren Ölmilliardär spekuliert worden.
Chodorkowski und sein Geschäftspartner Platon Lebedew waren 2003 festgenommen worden. Damals galt Chodorkowski als reicher Unternehmer mit politischen Ambitionen - eine Mischung, die ihm zum Verhängnis werden sollte. Erst saßen die beiden Männer in Untersuchungshaft, dann, ab 2005, in verschiedenen Straflagern. In zwei Verfahren wurden sie wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Unterschlagung verurteilt. Das Gefangenenlager in Karelien hätte Chodorkowski erst im August 2014 verlassen dürfen. Doch am Donnerstag erklärte Russlands Präsident Putin überraschend, er werde seinen politischen Widersacher begnadigen.
Wie geht es nun weiter für Chodorkowski? Er will sich am Sonntag zu seinen Zukunftsplänen äußern. Nach Angaben des Kreml hat er zwar jederzeit das Recht, nach Russland zurückzukehren. Doch die Chancen, in seiner Heimat wieder erfolgreich zu sein, sind nahezu aussichtslos.
"Er wird noch Tage und Wochen brauchen, um sich psychologisch umzustellen", sagt Russland-Experte Rahr. Nach seiner Ankunft habe man ihm angesehen, "dass er einerseits noch voller Adrenalin war, andererseits total übermüdet. Aber er fühlt sich gut".
"Putin entscheidet, wer ins Gefängnis kommt und wer freikommt"
In der deutschen Politik ist die Freilassung des Kreml-Kritikers sehr positiv aufgenommen worden. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte der "FAS": "Ich freue mich, dass Michail Chodorkowski in Freiheit in Deutschland ist. Allen, die daran Anteil hatten, gebührt mein Dank." Auch andere Politiker zeigten sich über die Freiheit für Chodorkowski erfreut, äußerten sich aber skeptisch, ob die Begnadigung durch Präsident Putin einen Kurswechsel in der russischen Politik darstelle.
Der CDU-Abgeordnete Andreas Schockenhoff sagte der Zeitung, eine Begnadigung könne rechtsstaatliche Verfahren nicht ersetzen. Die Grünen-Politikerin Marieluise Beck sagte: "Bei aller Freude ist das Schwierige an einem Gnadengesuch, dass derjenige, der eine Geisel genommen hat, jetzt den Dank für die Großzügigkeit der Freilassung bekommt." Das hinterlasse einen bitteren Nachgeschmack.
Der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich sagte der "FAS", falls die Freilassung Chodorkowskis eine Chance biete, die Beziehungen der EU zu Russland zu verbessern, dann sollte man sie nutzen. Russland habe große wirtschaftliche Probleme und sei auf Zusammenarbeit angewiesen. Der Abgeordnete Gernot Erler (SPD) sagte hingegen: "Ich glaube nicht, dass die Freilassung Chodorkowskis der Beginn einer geplanten Liberalisierung in Russland ist." Es gehe Putin um den Imagegewinn vor den Olympischen Spielen in Sotschi. Stefan Liebich, Außenpolitiker der Linkspartei, sagte der Zeitung, er freue sich über die Freilassung. "Man hat allerdings den Eindruck, dass der Staatschef entscheidet, wer ins Gefängnis kommt und wer freikommt."