
Hunger in Somalia: Die Qualen der Kleinen
Helfer in Somalia "Die Kinder können vor Schwäche nicht mal weinen"
Hamburg - Zehntausende Menschen fliehen vor der Hungerkatastrophe in Somalia. Viele sterben auf der Flucht, andere schleppen sich mit letzter Kraft in Lager internationaler Hilfsorganisationen. Sie retten sich nach Kenia, Äthiopien, suchen aber auch im eigenen Land Schutz. Sie nehmen sogar die Hunderte Kilometer weite Reise in die nordsomalische Stadt Bosaso auf sich. Die Britin Rachel Palmer ist dort für die Kinderrechtsorganisation Save the Children tätig und berichtet von der schwierigen Arbeit vor Ort.
SPIEGEL ONLINE: Als "Hölle" wird der ostafrikanische Staat Somalia oft bezeichnet. Vom Bürgerkrieg zerrüttet, leidet das Land jetzt unter der schwersten Dürre seit 60 Jahren. Wie können Sie unter solchen Bedingungen überhaupt helfen?
Palmer: Hier im Norden kommen jeden Tag neue Flüchtlinge aus der Hauptstadt Mogadischu oder aus dem Süden an. Es ist eine sehr schwierige Situation, eine große Herausforderung für uns, aber es ist möglich. Wir arbeiten seit 20 Jahren in Somalia und haben gute Beziehungen zur lokalen Bevölkerung aufgebaut. Das ist sehr wichtig, um jetzt die dringend benötigte Hilfe zu leisten. Allein in Bosaso gibt es 31 Lager mit Bedürftigen, etwa 20 Familien kommen täglich hinzu.
SPIEGEL ONLINE: In welchem Zustand sind die Flüchtlinge?
Palmer: Die Menschen haben absolut alles verloren. Ihre Tiere sind gestorben, sie haben keine Arbeit und keine Ersparnisse mehr. Sie haben nur noch das, was sie auf der Haut tragen. Eine Mutter, die ich hier getroffen habe, hat hundert Ziegen und fünfzig Rinder wegen der Dürre verloren. Ihr Mann wurde schon vor einiger Zeit von den Milizen erschossen. Wegen der hohen Preise konnte sie kein Essen mehr kaufen. Ihre drei kleinen Kinder wurden krank, sie mussten die Region verlassen. Sie sagte: 'Wer noch stark genug sind, kann fliehen. Zurück bleiben die Schwachen.'
SPIEGEL ONLINE: Wie versorgen Sie die Menschen?
Palmer: Wir gehen in die Lager und überprüfen, wer am meisten Hilfe braucht. Den Kleinkindern geben wir eine hochangereicherte Erdnusspaste. Wir verteilen auch monatliche Rationen an die Familien, damit diese Spezialnahrung nicht unter allen Verwandten aufgeteilt wird, sondern tatsächlich an die Kinder geht. Außerdem versorgen wir vor allem Schwangere und stillende Mütter. Wenn die Mütter unterernährt und krank sind, werden auch die Babys krank. Ich habe viele Neugeborene gesehen, die extrem unternährt sind.
In einem Krankenhaus hier war ein zwei Monate altes Baby. Es wog nur so viel wie ein Neugeborenes und sah aus wie ein alter Mann, mit hohlen Wangen und eingesunkenen Augen. Wenige Tage später sah der Junge schon deutlich besser aus, die Verwandlung war unglaublich. Darum müssen wir helfen.
SPIEGEL ONLINE: Wie viele Kinder brauchen Hilfe in Somalia?
Palmer: Zwei Millionen Kinder sind von der Hungerkrise in Somalia betroffen, eine Million droht zu sterben. Kinder sind die Schwächsten, gerade sie müssen wir versorgen. Wenn sie in den ersten zwei Jahren ihres Lebens unterernährt sind, ist ihre geistige und körperliche Entwicklung für immer gestört. Später können sie keine Arbeit finden und ihre Familie nicht ernähren.

SPIEGEL ONLINE: Die islamistischen Schabab-Milizen unterbinden Hilfe für die Hungernden in Süd-Somalia, viele internationale Organisationen dürfen in den Gebieten nicht arbeiten oder wurden aus der Region verwiesen. Warum konnte Save the Children bislang bleiben?
Palmer: Wenn wir unsere Arbeit weitermachen wollen, müssen wir neutral bleiben. Unsere höchste Priorität ist es, Kindern und Familien zu helfen. Die politische Situation darf uns nicht davon abhalten.
SPIEGEL ONLINE: Wie sicher sind Sie als Helfer?
Palmer: Hier in Puntland [eine teilautonome Region im Norden, die nicht unter Kontrolle der Schabab ist, Anm. der Red.] fühle ich mich sicher, ich arbeite mit einer Gruppe von lokalen Mitarbeitern. Sie haben viel Vertrauen und Respekt bei der Bevölkerung gewonnen. Die Menschen sind sehr freundlich und offen zu mir.
SPIEGEL ONLINE: Arbeitet Save the Children auch in Mogadischu? Von dort gibt es Berichte über heftige Kämpfe, gerade jetzt, wo Hilfslieferungen eingeflogen werden.
Palmer: Nein, aber wir denken darüber nach. Wir müssen sehen, dass die Hilfsorganisationen nicht alle an den gleichen Orten arbeiten und dass wir uns koordinieren - um allen im Land helfen zu können.
SPIEGEL ONLINE: Haben die Milizen Menschen an der Flucht gehindert?
Palmer: Einige Familien sind auf ihrem Weg auf bewaffnete Gruppen getroffen. Das ist traumatisierend für die Kinder. Die Menschen leben in einer ernsten Hungerkrise, sie leiden unter den hohen Lebensmittelpreisen, und dann auch noch die Kämpfe. Eine sehr schwierige Situation.
SPIEGEL ONLINE: Wie wird sich die Lage in Somalia jetzt weiter entwickeln?
Palmer: Die Regenzeit soll erst Ende September oder Anfang Oktober beginnen, wenn es überhaupt regnet. Die kommenden Monate sind entscheidend, die jetzige Krise wird noch mindestens drei bis sechs Monate dauern. Die internationale Gemeinschaft muss diese humanitäre Katastrophe aufhalten.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben in Niger, Liberia und Sudan gearbeitet. War die dortige Situation vergleichbar mit der in Somalia?
Palmer: In all den Flüchtlingslagern sehe ich die Verzweiflung der Mütter. Ihr Schmerz ist fühlbar. Und die Stille der Kinder: Wenn man in einen Raum voller Kinder kommt, ist es ganz still. Sie sind so krank, dass sie nicht einmal mehr weinen können.