Herabgestuftes Amerika Rette sich, wer kann

US-Präsident Obama (Anfang August in Chicago): Ein enormes Problem mehr
Foto: JIM YOUNG/ REUTERSSie fielen auf die Knie, sie weinten, sie reckten die Arme flehend zum Himmel. "Du ruftest uns zur Buße, Herr", schallte eine Stimme durch das weite Stadion. "Dieser Tag ist unsere Antwort."
Zehntausende waren ins texanische Reliant Stadium geströmt, in dem sonst die Houston Texans Football spielen. "Gebete für eine Nation in der Krise", so lautete der Aufruf, dem sie willig gefolgt waren. Denn gegen "finanzielle Schulden, Terrorismus und Naturkatastrophen" gebe es nur eine Hoffnung: "Jesus bitten, uns durch diese historischen Probleme zu geleiten."
Also beteten sie um Vergebung, Erlösung - und einen Ausweg aus dem Schuldendebakel. Dass die Rating-Agentur Standard & Poor's (S&P) nur Stunden zuvor die Bonität der USA herabgestuft hatte, war zwar Zufall, die Veranstaltung war lange geplant gewesen. Doch es passte prima ins Programm.
Vor allem passte es ins Programm des Initiators der Bet-Rallye, des texanischen Gouverneurs Rick Perry. Denn der Republikaner, der mit einer Präsidentschaftskandidatur liebäugelt, konnte den Massenaufmarsch nutzen, um sowohl gegen Barack Obama als auch gegen seine eigenen Parteirivalen anzustänkern, ohne sie auch nur beim Namen zu nennen.
"Wir sehen Zwietracht daheim", bebte Perry also in seinem Grußgebet, das graumelierte Haupt gebeugt. "Wir sehen Furcht im Markt. Wir sehen Zorn in den Hallen der Regierung." Nur Gott könne da noch den rechten Weg weisen.
Gott - und, so die frohe Botschaft, Rick Perry. Zwar bemühte der sich, jeden politischen Unterton zu vermeiden. Doch der Tenor war klar: Washington ist kaputt - und nur ein Außenseiter kann die USA noch retten vor dem nationalen und internationalen Kreislaufkollaps.
Während der Rest der Welt am Wochenende mit Selbstgerechtigkeit und zugleich sanfter Panik auf Amerikas Rating-Verlust reagierte, war der Effekt in den USA ein anderer. Hier schoben sich alle Betroffenen reflexartig den Schwarzen Peter gegenseitig zu, versuchten, sich politisch zu positionieren und zu distanzieren - voneinander und nicht zuletzt auch von Washington, dem Herd der politischen Funktionsstörung, die S&P in seiner Rating-Schelte so angeprangert hatte.
Genau jener politische Stillstand, den S&P so bemängelt
Kein Wunder: Die Agentur hat dem US-Wahlkampf ein Reizthema geliefert, das kaum saftiger sein könnte. Denn beide Seiten tragen, nach dem Polit-Spektakel der letzten Wochen hier, eine Kollektivschuld am Schuldendrama. Und beide Seiten hoffen nun zugleich, diesen Schandfleck den anderen anheften zu können.
Die Fronten wurden spätestens am Sonntag klar, als die Protagonisten durch die politischen TV-Talkshows hechelten. Da machte das Weiße Haus die Tea Party für den peinlichen Rating-Knick verantwortlich - und schoss zugleich gegen S&P, der es jede Seriösität absprach. Die Republikaner dagegen versuchten, Obama als Sündenbock des Theaters zu zeichnen.
"Dies ist ein Tea-Party-Downgrade", sagte Obamas früherer Top-Stratege David Axelrod im TV-Network CBS, sekundiert von Ex-Parteichef Howard Dean: "Dies ist ein Tea-Party-Problem." Der republikanische Senator Lindsey Graham - der gegen den Schuldenkompromiss gestimmt hatte - hielt dagegen: Obama habe versagt, "und das ist nicht der Fehler der Tea Party".
Das Resultat ist ironischerweise genau der politische Stillstand, den S&P so bemängelt hatte. Statt aufeinander zuzugehen, rückten die Gegenseiten in Washington nun nur noch weiter voneinander ab, verhärteten sich die Fronten nur noch mehr. Motto: Rette sich, wer kann.
Vor allem für Obama ist die Rating-Rüge von Amts wegen ein enormes Problem - als habe er nicht ohnehin schon genug davon. Jetzt muss er sich auch noch von dem Makel befreien, über diese Demütigung, ihre Folgen und eine womöglich doppelte US-Rezession präsidiert zu haben.
Da überraschte es nicht, dass sich Obama am Wochenende nirgends sehen ließ, trotz globalen Aufruhrs über die S&P-Entscheidung. Stattdessen verkroch er sich auf dem präsidialen Landsitz Camp David und überließ es seinen Sprachrohren, die Gemüter zu besänftigen.
In einer Erklärung - die das S&P-Downgrade mit keinem Wort erwähnte - gelobte Obama-Sprecher Jay Carney fiskalische Besserung und überparteiliche Zusammenarbeit. Zugleich warf Gene Sperling, der Chef des Wirtschaftsrats im Weißen Haus, S&P "Amateurismus" und einen "atemberaubenden" Fehler vor: Die Rating-Agentur habe sich bei der Berechnung der langfristigen US-Verpflichtungen um mehr als zwei Billionen Dollar verrechnet. Andere regierungsnahe Quellen betonten die Mitverantwortung der Rating-Agenturen für die Finanzkrise 2008.
Die Wähler hassen Washington
Aber es sind ja nicht die Zahlen, die das S&P-Urteil so schwerwiegend machen - sondern dessen Anklage gegen den politischen Verfall Washingtons, an dem keiner mehr zweifeln kann. Und davon wird sich Obama nur schwer lösen können, selbst wenn er sich in der Schuldendebatte ja spürbar zurückgehalten hatte. Im Gegenteil: Seine bekannte Aversion gegen jeglichen Konflikt und seine Abneigung gegen ein lautes Machtwort von oben drohen ihm in diesem Fall zum Verhängnis zu werden.
Selbst für diesen Montag, dem ersten Börsentag nach dem S&P-Schock, hat Obama keinerlei öffentliche Erklärung geplant. Stattdessen hat er zwei Wahlspendengalas auf dem Programm.
Seine Strategie ist offenbar, sich aus dem Rating-Streit völlig herauszuducken und nicht weiter aufzufallen. Denn die politische Lehre der letzten Wochen ist klar: Die Wähler hassen Washington - und alles, was von dort kommt.
Sowohl der Kongress als auch Obama sanken in den jüngsten Popularitätsumfragen auf historische Tiefstwerte. 82 Prozent der Wähler missbilligen zurzeit den Kongress, und nur noch 40 Prozent sind auf Obamas Seite - beides Minusrekorde. Und das, bevor S&P noch einen draufsetzte.
Obamas einzige Wahlkampfstrategie wäre es also, gegen Washington zu kandidieren. Vor vier Jahren fiel ihm das noch leicht. Diesmal aber ist er längst der ultimative Insider - und im Bewusstsein der Wähler kaum weniger haftbar für die Blockade als die Republikaner.
"Obama muss zusehen, dass er aus Washington herauskommt und wieder einen Draht zu den Leuten findet, die im Moment ziemlich sauer auf ihn sind", sagte der republikanische Demoskop Frank Luntz dem Online-Magazin Politico. "Je schneller er sich fortmacht, desto besser."
Ambiente aus Dung und Drama
Nächste Woche beginnt Obama also eine dreitägige Bustour durch den Mittleren Westen - jene klassische PR-Finte, mit der Washingtons Politiker seit jeher versuchen, ihre innige Verbundenheit mit dem Herzen der Wahlnation zu bekunden. Obamas einziger bisher angekündigter Stopp, wen wundert's: Iowa.
Da wird er nur wenige Tage nach den meisten Republikaner-Kandidaten eintreffen. Auch die versammeln sich diese Woche in Iowa zu ihrem ersten Großaufmarsch des Wahlkampfs: Mit einer TV-Debatte, einer Testabstimmung und der Begehung der Iowa State Fair, der traditionellen Landwirtschaftsmesse, wollen sie den ersten Vorwahlstaat betören. Denn nichts scheint den Iowa-Wählern mehr zu imponieren als Kandidaten im Kreise von Kälbern.
In diesem Ambiente aus Dung und Drama dürfte die S&P-Watsche nun zum Hauptthema werden. Schon laufen sich die Kandidaten warm. "Dies ist unter Ihrer Wacht passiert, Mr. President", rief die Tea-Party-Abgeordnete Michele Bachmann, die bereits am Sonntag in Iowa war. "Sie waren verschollen." Bachmann forderte Obama auf, sofort aus Camp David nach Washington zurückzukehren und "sich ans amerikanische Volk zu wenden, bevor die Märkte am Montag den Handel aufnehmen".
Dass die Republikaner für das Schuldendebakel maßgeblich mitverantwortlich sind, davon wollte Bachmann freilich nichts wissen: "Das wirkliche Problem ist, dass Obama es versäumt hat, in dieser Frage zu führen."
Auch andere Kandidaten schossen sich bereits auf Obama ein. "Wir sollten Barack Obama als Präsident der Vereinigten Staaten downgraden", sagte Tim Pawlenty, und Mitt Romney nannte die Rating-Entscheidung von S&P "einen zutiefst beunruhigenden Indikator für den Abstieg unseres Landes unter Präsident Obama".
Und so sind die US-Wahlkampfkonturen neu gezeichnet, nicht zuletzt auch dank S&P. So oder so: Obamas Image als historischer Umwälzer ist längst dahin - zerrieben im Parteizank, zerbrochen an der Bully-Mentalität der Tea Party, die er sträflich unterschätzt hat.
Fast wehmütig erinnerte Psychologieprofessor Drew Westen in einem Essay für die "New York Times" an die großen Reformer der US-Geschichte, allen voran Franklin D. Roosevelt. "Das war die historische Rolle, in die die Amerikaner Barack Obama hineingewählt haben", schrieb er. Stattdessen habe Obama die Nation mit seiner Schwäche nun "um mindestens eine Generation" zurückversetzt.