Massive Proteste, leere Geschäfte Hongkongs Wirtschaft leidet

Massive Proteste, leere Geschäfte: Hongkongs Wirtschaft leidet
Foto: TYRONE SIU/ REUTERSVater, Mutter und ein Kind, die mit großen Rollkoffern ausgerüstet die nächste Ladenzeile ansteuern: So sehen die gern gesehenen Gäste in Hongkong aus. Die Ein-Kind-Familien, die mit dicken Geldbeuteln auf Shoppingtour gehen, sind wohlhabende Festlandchinesen. Vor allem in den ersten Oktobertagen, wegen ihrer Feiertage auch "Goldene Woche" genannt, fallen sie Jahr für Jahr in der Sonderverwaltungszone ein, um hier all das zu kaufen, was zu Hause rar und teuer ist. Normalerweise.
Doch am Donnerstag stehen Jack Lan und seine drei Kollegen ganz alleine in dem Delikatessen-Geschäft am Hongkonger Times Square, in dem sich jetzt die Käufer drängeln sollten: Die anhaltenden Proteste gegen eine von Peking verordnete Wahlrechtsreform für Hongkong haben viele chinesische Touristen - sie machen 75 Prozent der jährlichen Besucher Hongkongs aus - abgeschreckt. Andere sind nicht gekommen, weil Peking angesichts der Demonstrationen organisierte Bustouren nach Hongkong für eine Woche verboten hat: Nicht, dass der Funke des Protests auf die Teilnehmer der Kaffeefahrten überspringt.

Lans Feinkostladen bietet eine seltsame Mischung aus Profanem und Exotischem. Im Eingang stapeln sich Hunderte Dosen mit Milchpulver. "In China ist selbst das Milchpulver gefälscht und voller Schadstoffe", erklärt Lan. "Die Touristen packen sich ganze Koffer damit voll und verkaufen es daheim mit Gewinn an Familien mit Kindern." Die Glasvritinen sind voll von etwas, das wie geriffelte Muschelschalen aussieht. "Vogelnester. Wir verkaufen sie für 1283 Hongkong-Dollar pro Paket", sagt Lan. Das sind umgerechnet 129 Euro für 78 Gramm getrockneten Mauersegler-Speichel. Vogelnestsuppe ist Chinas Antwort auf Luxus-Autos und teure Uhren - ein essbares Statussymbol.
Lan will sich nicht fotografieren lassen, seinen Unmut über die Demonstranten, die zwei Straßen von seinem Laden vor den Niederlassungen von Rolex, Breitling und Mui Mui kampieren, äußert er nur vorsichtig. "Die Teenager sollten nach Hause gehen. Was sie tun, ist schlecht fürs Geschäft und schlecht für Hongkong", sagt Lan.
Gelbe Bänder für Demonstranten - blaue für Gegendemonstranten
Andere bringen ihren Zorn über die anhaltende Lähmung des Geschäfts- und Finanzzentrums inzwischen auch deutlicher zum Ausdruck. Am Donnerstag gab es mehrere kleine Gegendemos gegen die Proteste. "Wir, die schweigende Mehrheit, können nicht länger schweigen. Die Leute können nicht zur Arbeit gehen, die Wirtschaft leidet", sagte Leticia Lee See-yin, auf deren Aufruf hin sich mehrere Dutzend Anti-Protest-Demonstranten am Hafen versammelten.
Die Demonstranten, die seit nunmehr sechs Tagen mehr Demokratie und freie Wahlen für Hongkong fordern, tragen gelbe Schleifen am Revers. Seit gestern heften sich ihre Kritiker nun blaue Schleifen an.
Wie schwer die Wirtschaft Hongkongs von den Protesten in Mitleidenschaft gezogen wird, ist schlecht einzuschätzen. Seit Tagen steht der Hongkong-Dollar, die Währung der chinesischen Sonderverwaltungszone, unter Druck. An der Börse hat sich die Stimmung in der vergangenen Woche spürbar eingetrübt. "Die zunehmenden Proteste fordern ihren Tribut", heißt es in einer Studie des britischen Analyse-Hauses Capital Economics. Andererseits sei die Auswirkung nicht dramatisch und noch lokal beschränkt.
Für die Unternehmer vor Ort aber sind es schmerzhafte Einbußen. Der Vizepräsident der Gewerkschaft der Taxifahrer, Low Shih-Cheng, klagt, wegen der Straßensperren hätten er und seine Kollegen bis zu einem Drittel weniger Arbeit als sonst. Kleine Geschäftsleute in dem belebten Viertel Mong Kok behaupten in Hongkonger Medien, dass sie bis zu 70 Prozent ihres Umsatzes eingebüßt hätten.
"Schlimmer als Sars"
"Das hier ist schlimmer als Sars", sagt ein Juwelier, der seinen Namen nicht nennen will. 2003 hatte der Ausbruch der Lungeninfektionskrankheit in Hongkong das Geschäftsleben für Wochen zum Erliegen gebracht. In der Metropole beschäftigen 320.000 Familienbetriebe über 1,3 Millionen Arbeiter - kein kleiner Anteil der etwa 7 Millionen Gesamtbevölkerung der Sonderwirtschaftszone. Sollten sich Hongkongs kleine Leute von den Protesten abwenden, könnte das für die Occupy Central Bewegung ernste Folgen haben, warnen Aktivisten des Tiananmen-Platzes in Peking. 1989 hatten Tausende Demonstranten über Wochen den Platz des Himmlischen Friedens in Peking besetzt und mehr Demokratie gefordert. Schließlich ließ das Regime das Protestlager zusammenschießen, mehrere Tausend Menschen sind vermutlich dabei getötet worden.
Dass es in Hongkong keinen großen Versammlungsort wie den Tiananmen gebe, könnte sich für die Demonstranten negativ auswirken, warnte Chai Ling, die in Peking eine der Anführerinnen des Sit-in war. "Die Leute, die zur Arbeit gehen wollen, müssen zur Arbeit gehen können", sagte sie der Agentur Reuters.
"Wenn es zu lange dauert, wird es das Leben der normalen Leute beeinträchtigen, und die Bewegung wird sich Widerstand von einem Gutteil der Bevölkerung ausgesetzt sehen", sagte Yang JianLi, der als Student auf dem Tiananmen demonstrierte und heute eine Lobby-Gruppe für Demokratie in China in Washington leitet.
Je länger sich die Proteste hinziehen, desto geringer scheint ihre Aussicht auf Erfolg. Das scheint man auch im Amtssitz der Regierung verstanden zu haben. Der unter Druck stehende Regierungschef Leung Chun-Ying spielt klar auf Zeit. In der Nacht zum Freitag ließ er ein Ultimatum für seinen Rücktritt verstreichen, nahm den erbosten Demonstranten dann aber den Wind aus den Segeln, indem er ihnen direkte Gespräche mit der Regierung anbot.