
Toter Palästinenser: Aufruhr im Westjordanland
Massenprotest im Westjordanland Israel fürchtet neuen Palästinenser-Aufstand
Israels Minister für Heimatschutz, der ehemalige Chef des Inlandsgeheimdiensts Avi Dichter, rechnet mit einer Eskalation der Gewalt: Es drohe der Ausbruch einer neuen Intifada in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten. Das sagte Dichter am Montag dem israelischen Armeeradio. Angesichts der seit Tagen anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften im Westjordanland bestehe die Gefahr, dass die Situation außer Kontrolle gerate. "Die beiden ersten Intifadas wurden durch die hohe Zahl an Todesfällen bei solchen Protesten ausgelöst", so Dichter. Diese Gefahr bestünde jetzt wieder. "Todesopfer führen fast automatisch zu einer schärferen Eskalation."
Auch Alex Fishman, Kolumnist der Zeitung "Yedioth Ahronoth", zeigte sich am Wochenende ebenfalls besorgt über die Möglichkeit eines neuen Aufstands. "Der Highway, der zu einer Intifada führt, ist weit offen", so Fishman am Sonntag.
Aktueller Anlass für die Sorge der Israelis war die für Montagmittag anberaumte Beerdigung des am Samstag in israelischer Haft verstorbenen Palästinensers Arafat Dscharadat. Der 30-jährige Familienvater war fünf Tage vor seinem Tod wegen des Verdachts verhaftet worden, dass er Steine auf israelische Zivilisten geworfen haben soll. Sein Tod sorgte auf palästinensischer Seite für große Empörung, sofort war davon die Rede, dass Dscharadat unter Folter gestorben sein soll.
Chefpathologe stellt Spuren "extremer Folter" fest
Die Beisetzung Dscharadats verlief ohne Zwischenfälle. Doch die Al-Aksa-Brigaden, der bewaffnete Arm der Fatah-Bewegung, kündigte in einer Erklärung Rache für den Tod eines ihrer "Helden" an. Um den Folterverdacht auszuräumen, bewilligte Israel in einem höchst ungewöhnlichen Schritt die Gegenwart palästinensischer Ärzte und Familienangehöriger bei der Autopsie des Toten. Der palästinensische Chefpathologe Saber Alul kam dabei zu dem Schluss, dass Dscharadat an den Folgen "extremer Folter" gestorben sei. Seine Leiche habe mehrere gebrochene Rippen und an Hals, Rücken und Brust Blutergüsse aufgewiesen.
Israelische Behörden, die den Tod Dscharadats zuerst einem Herzinfarkt zugeschrieben hatten, wollten sich nach der Autopsie vorerst nicht mehr auf eine Todesursache festlegen. Das Gesundheitsministerium teilte mit, es seien weitere Tests vonnöten, um zu klären, woran der junge Mann gestorben sei.
Bereits am Montagmorgen hatten sich Tausende Palästinenser in Sair, dem Heimatdorf des Verstorbenen in der Nähe von Hebron, versammelt, um ihm das letzte Geleit zu geben. Die israelische Armee hatte Tausende von Soldaten in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Ausländische Journalisten wurden an Kontrollpunkten der Armee zunächst aufgehalten und nicht nach Sair durchgelassen.
Der Grund für die heftige Reaktion auf den Tod Dscharadats ist auch die hohe Zahl palästinensischer Häftlinge in israelischer Haft. Seit Beginn der Besatzung 1967 haben etwa 800.000 Palästinenser Zeit hinter israelischen Gittern verbracht. Etwa 200 Gefangene sind in dieser Zeit in israelischem Gewahrsam gestorben, Zigtausende wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen gefoltert. Am Sonntag haben 4500 palästinensische Gefangene einen Hungerstreik begonnen, um gegen den Tod Dscharadats und ihre Haftbedingungen zu protestieren.
Rapide Verschlechterung der Lage im Westjordanland
Bereits vor Dscharadats Tod war es in den vergangene Wochen zu einer rapiden Verschlechterung der Lage im besetzten Westjordanland gekommen.
- Am Freitag hatten sich Hunderte Palästinenser in mehreren Orten des Westjordanlandes wieder Straßenschlachten mit israelischen Sicherheitskräften geliefert. In Hebron südlich von Jerusalem ging auch palästinensische Polizei gegen die Demonstranten vor. Dort hatte der israelische Extremist Baruch Goldstein vor fast genau 19 Jahren beim Grab der Patriarchen 29 Palästinenser erschossen und 125 verletzt, bevor er selbst getötet wurde.
- Bereits am Donnerstag hatten sich Hunderte palästinensische Demonstranten vor dem israelischen Militärgefängnis Ofer bei Ramallah Konfrontationen mit israelischen Soldaten geliefert. Mit ihrer Versammlung wollten sie Solidarität mit vier palästinensischen Häftlingen zeigen, die sich seit Monaten im Hungerstreik befinden, um gegen ihre Haft ohne Anklage zu protestieren.
Einer von ihnen, Samer Issawi aus Ost-Jerusalem, nimmt bereits seit 213 Tagen keine feste Nahrung zu sich. Er hat angekündigt, er wolle seinen Protest bis zu seinem Tod oder seiner Freilassung fortsetzen. Am vergangenen Dienstag hatte sich Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon in die Angelegenheit eingeschaltet. "Die Festgehaltenen müssen angeklagt und gemäß internationalen Standards vor Gericht gestellt oder freigelassen werden", sagte Ban.
Zum Unmut der Bevölkerung trägt bei, dass die finanzielle Lage vieler palästinensischer Familien angespannt ist. Als Reaktion auf die Aufnahme Palästinas als beobachtender Nichtmitgliedsstaat durch die Uno hat Jerusalem den Transfer von in Israel eingesammelten Steuergeldern gestoppt. Nun kann die Autonomiebehörde viele Gehälter nicht mehr zahlen. In einer Geste der Entspannung überwies Israel der Behörde am Sonntag 100 Millionen Dollar an einbehaltenen Steuern.
"Die Nation ist wundgerieben", sagte Husam Zomlot, Direktor der Kommission für Außenbeziehungen der Autonomiebehörde, SPIEGEL ONLINE. Er betonte, die palästinensische Führung wolle eine gewaltsame Eskalation des jetzigen Konflikts vermeiden. "Doch wie kontrolliert man den Zorn einer verwundeten Nation?" Zomlot warf Israel vor, im Vorfeld des Besuchs von US-Präsident Barack Obama in der Region am 20. März bewusst zu provozieren. "Israel will keine politische Lösung und versucht alles, um Friedensverhandlungen unmöglich zu machen."