Jüdische Fluchtwelle Lieber Raketenhagel als Leben in Frankreich

Immer mehr französische Juden kaufen sich Wohnungen in Israel - schon lange vor den Mordattacken fühlten sie sich mit ihren Familien in der alten Heimat nicht mehr sicher. Der Anschlag von Toulouse könnte die Auswanderungswelle noch verstärken.
Von Gil Yaron
Tel Aviv: Immer mehr französische Juden fürchten um ihre Sicherheit in der Heimat

Tel Aviv: Immer mehr französische Juden fürchten um ihre Sicherheit in der Heimat

Foto: JONATHAN NACKSTRAND/ AFP

Es muss viele an die Selektion in den Konzentrationslagern der Nazis erinnert haben: Kurz nach dem Attentat auf die jüdische Schule in Toulouse betraten in der Stadt Schuldirektoren die Klassen und baten die jüdischen Schüler, sich zu melden: "Wir bitten euch, den Unterricht zu verlassen und euch zu den anderen jüdischen Kindern zu gesellen, die sich an einem geschlossenen und sicheren Ort befinden."

Es war als Vorsichtsmaßnahme gedacht, die der Bitte der jüdischen Gemeinde entsprach. Doch sie macht deutlich, wie sehr sich manche Juden in Frankreich als bedrohte, zunehmend ausgegrenzte Minderheit erleben. Tausende fällen deswegen jedes Jahr einen dramatischen Entschluss: Sie packen ihre sieben Sachen und ziehen ins Krisengebiet Israel. Dort fühlen sie sich besser aufgehoben.

Linda zog vor fünf Jahren aus Paris über Kanada ins israelische Aschdod. Noch vor einer Woche waren sie, ihr Mann und ihre zwei Söhne dem Raketenhagel aus Gaza ausgesetzt. Trotzdem ist Linda, die ihren Nachnamen nicht angeben will, heilfroh nicht mehr in Frankreich zu leben. "Hier ist es viel sicherer als in Frankreich", sagt sie.

Dort sei der "Antisemitismus unerträglich geworden: Kinder werden auf dem Schulweg drangsaliert, nur weil sie Juden sind", sagt Linda. Sie selber sei "mitten auf der Champs-Elysées" Opfer eines solchen Übergriffs geworden: "Ich trug eine Kette mit einem Davidstern. Jemand rempelte mich an. Ich sagte ihm: 'Dafür kann man sich doch entschuldigen!'. Er sagte mir nur, dass er sich nicht bei Juden entschuldige."

Laut Angaben des israelischen Einwanderungsministeriums siedeln derzeit jedes Jahr rund 2000 französische Juden nach Israel über, rund 100.000 sind es bereits insgesamt. Der israelischen Regierung ist das durchaus recht: Sie freut sich über die kaufkräftigen, gebildeten Einwanderer. Im Jahr 2004 löste solch ein offener Aufruf zur Auswanderung von Premierminister Ariel Scharon in Paris Empörung aus und kühlte die bilateralen Beziehungen ab. Doch die Einwanderungswelle hielt an: "Es ist noch keine Flucht vor Antisemitismus", sagt Avi Zana, Direktor von Ami, einer Hilfsorganisation für frankophone Neuankömmlinge, zu SPIEGEL ONLINE.

Juden reisten auch aus religiösen Gründen ein, oder um eine jüdische Braut zu finden. Dennoch kämen viele auch angesichts der heiklen Lage vor Ort zum Schluss "dass die Zukunft jüdischer Kinder dort nicht mehr sicher ist." Laut einer Studie im Jahr 2004 erwägt jeder vierte der rund 500.000 Juden Frankreichs, nach Israel auszuwandern - aus Angst vor Antisemitismus.

Wie viel Schutz können Kameras bieten?

Im Jahr 2006 erreichte diese Angst einen Höhepunkt, nachdem der 24 Jahre alte Ilan Halimi von einer Gruppe mit antisemitischem und arabischem Hintergrund drei Wochen lang festgehalten, gefoltert und schließlich ermordet wurde. Die Einwanderungszahlen aus Frankreich schwollen damals um rund 50 Prozent an.

Der Knesset-Abgeordnete Daniel Ben Simon hat das Phänomen jüdischer Auswanderung in seinem Buch "Französischer Biss" untersucht: "Juden in Frankreich haben Angst vor dem Tag, an dem die Muslime zu einem bestimmenden Faktor der französischen Innenpolitik werden. Sie fürchten, dass das Land dann nicht mehr sicher für sie sein wird", sagte Ben Simon SPIEGEL ONLINE.

Schon jetzt komme es jedes Jahr zu "Hunderten antisemitischer Zwischenfälle", hauptsächlich von Seiten arabischer Einwanderer, sagt Zana: "Das löst großen Druck aus. Wie lange können jüdische Gemeinden sich vor Übergriffen mit Überwachungskameras schützen?"

Explodierende Wohnungspreise in den Stadtzentren

Der Tel Aviver Immobilienmakler Jitzchak Touitou bestätigt diesen Trend: "Rund ein Drittel meiner Kunden sind Juden aus Frankreich", sagt Touitou. Nicht bloß Superreiche leisten sich Zweitwohnungen in Israel: "Jeder französische Jude, der das Geld nur irgendwie aufbringen kann, kauft hier eine Wohnung", sagt Touitou. Ben Simon schätzt, dass "fast jeder zweite französische Jude einen Wohnsitz in Israel unterhält." Es sei "eine Art Versicherungspolice, falls die Lage in Frankreich noch schlimmer wird."

Touitou hört bei den Häuserbesichtigungen haarsträubende Berichte von seinen Kunden: "Die Atmosphäre in Frankreich ist sehr bedrohlich geworden: Menschen tragen keine Kippa mehr, wenn sie auf der Straße gehen. Sie haben Angst, angepöbelt zu werden."

Der Angriff auf die Schule sei eine tragische Ironie, sagt Touitou, dessen Schwiegermutter mit dem Gründer der Schuleinrichtung "Ozar Hatorah" verheiratet ist: "Ich kenne den Lehrer, der erschossen wurde. Er lebte bis vor kurzem hier in Israel. Man musste ihn lange überreden nach Toulouse zu gehen, um dort Hebräisch und Religion zu unterrichten. Und dann verlässt er den Krisenherd Nahost und wird in Frankreich mit seinen zwei Kindern ermordet."

Vizepremier Silvan Schalom nutzte nun wie Scharon 2004 die Gelegenheit, Frankreichs Juden nach Israel einzuladen, drückte sich diesmal aber vorsichtig aus. Dennoch meint Ben Simon, dass dem israelischen Aufruf Erfolg beschieden sein könnte: "Wenn sich herausstellt, dass das Ereignis tatsächlich gezielt gegen Juden gerichtet war, erwartet Israel ein Fluchtwelle französischer Juden."

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