Korruptionsskandal in der Türkei Erdogan entzaubert sich selbst

Türkischer Ministerpräsident Erdogan: Immer neue Korruptionsvorwürfe
Foto: UMIT BEKTAS/ REUTERSIstanbul - Recep Tayyip Erdogan scheint zu wissen, dass die Krise an ihn heranrückt. Noch am Dienstag, eine Woche nach Beginn der Korruptionsaffäre, trat er gewohnt selbstbewusst vor die Journalisten. "Wenn sie versuchen, Tayyip Erdogan mit den Korruptionsvorwürfen zu treffen, werden sie nichts erreichen", sprach er, wie so oft, von sich selbst in der dritten Person. "Und weil sie wissen, dass sie mich nicht treffen, greifen sie meine Minister an."
Dann überschlugen sich die Ereignisse: Drei Minister traten am Mittwoch zurück, einer forderte Erdogan auf, es ihnen gleichzutun. Daraufhin kündigte Erdogan an, sein Kabinett umzubilden. Insgesamt zehn Minister wechselte er aus und beförderte dabei Politiker in seine Regierungsmannschaft, die er für besonders loyal hält.
Es geht in der Affäre um Betrug, Bestechung und Geldwäsche. Ein Ring von Geschäftsleuten, Politikern und Söhnen von Ministern soll milliardenschwere Ölgeschäfte mit Iran eingefädelt haben, obwohl das Land mit Sanktionen belegt ist. Um das internationale Ölembargo zu umgehen, wurde offenbar auf Umwegen mit Hilfe der staatlichen Halkbank Öl gegen Gold getauscht. Beim Chef der Bank fand man rund 4,5 Millionen Dollar in bar, aufbewahrt in Schuhkartons.
"Was ist falsch daran, sich für soziale Projekte einzusetzen?"
Nach und nach tauchen immer neue Korruptionsvorwürfe auf. Auf einen reagiert Erdogan besonders gereizt, weil er sich nämlich gegen seine Familie richtet. Ermittler untersuchen türkischen Medienberichten zufolge den Vorwurf, wonach die Stiftung Türgev versucht haben soll, nachträglich Änderungen an Bauplänen für ein stiftungseigenes Studentenwohnheim durchzusetzen. Erdogans Sohn Bilal sowie seine Tochter Esra gehören dem Vorstand der Stiftung an. "Es geht um ein Studentenwohnheim, nicht um Bilal Erdogans Hotel", sagte Erdogan. "Was ist falsch daran, sich für soziale Projekte einzusetzen?"
Mal macht er "ausländische Diplomaten" verantwortlich für einen Komplott gegen ihn, mal sind es "innere Kräfte", angeblich unterstützt von seinen politischen Rivalen. Was tatsächlich als Machtkampf zwischen Erdogan und dem einflussreichen islamischen Prediger Fethullah Gülen begann, der in den USA lebt und dessen Anhänger besonders stark in Justiz und Polizei vertreten sind, hat sich innerhalb weniger Tage zu einer Regierungs-, Staats- und Demokratiekrise ausgeweitet.
Immer mehr Politiker äußern sich teils öffentlich, teils in Hintergrundgesprächen kritisch über Erdogan und über "weit verbreitete Vetternwirtschaft innerhalb des Regierungsapparats". Der von den Korruptionsermittlungen abgezogene Staatsanwalt von Istanbul, Muammer Akkas, erhob schwere Vorwürfe gegen die Regierung: Er sei bei seinen Ermittlungen behindert worden. Zudem hätten Verdächtige genügend Zeit gehabt, Beweismaterial verschwinden zu lassen. "Alle meine Kollegen und die Öffentlichkeit sollen wissen, dass ich als Staatsanwalt davon abgehalten wurde, meine Ermittlungen zu führen. Die Justiz wurde ganz offen unter Druck gesetzt", schreibt Akkas in einer Mitteilung.
Doch der Widerstand gegen die Selbstermächtigung wächst.
Die Justiz wehrte sich gegen ein neues Dekret der Regierung.
Erdogan ist dabei, sein Erbe zu verspielen
Erdogan, seit 2003 an der Macht, ist dabei, seinen Ruf und sein Erbe zu verspielen. Dutzende Polizeichefs wurden entlassen, kritischen Mitgliedern der AK-Partei wird mit Ausschlussverfahren gedroht. "Es fehlt ihm an Gelassenheit", sagt ein AKP-Abgeordneter, der namentlich nicht genannt werden will. "Vielleicht hat er diesmal allen Grund, in Sorge um seine Macht zu sein."
Dabei hat Erdogan einiges vorzuweisen: Während seiner Regierungszeit ist die türkische Wirtschaft rasant gewachsen, die Türkei auf Platz 17 der größten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen. In den vergangenen fünf Jahren sank die Arbeitslosenquote von 15 auf 9 Prozent. Ihm gelang es, die einst ausufernde Inflation einzudämmen, während seiner Amtszeit baute die Türkei ihre Staatsschulden ab.
Erdogans Macht basiert vor allem auf diesen wirtschaftlichen Errungenschaften. Ein Großteil der Bevölkerung hält trotz seines autoritären Regierungsstils, trotz seiner Vorstöße in Richtung Islamisierung, trotz einer Spaltung der Gesellschaft zu ihm, weil es immer mehr Türken wirtschaftlich besser geht denn je. Die Mehrheit bejubelt Großprojekte wie den geplanten weltgrößten Flughafen in Istanbul, die dritte Bosporusbrücke, nur eine Minderheit schüttelt den Kopf über Pläne für einen neuen Kanal zwischen Schwarzem Meer und Ägäischem Meer, einen "künstlichen Bosporus", die Erdogan unbedingt verwirklichen möchte.
Bis zum Sommer kannte die türkische Wirtschaft nur eine Richtung: nach oben. Doch dann, zeitgleich mit dem Beginn der Gezi-Proteste, erlebte sie erste Rückschläge: Als die US-Notenbank ankündigte, ihre Politik des lockeren Geldes zu zügeln, zogen Investoren Geld aus der Türkei ab. Es wurde deutlich, wie sehr das Land von ausländischen Financiers abhängig ist. Zudem sind politische und wirtschaftliche Macht auf ungesunde Weise miteinander verstrickt, wie jetzt auch die Korruptionsvorwürfe zeigen.
Dass Erdogans Macht bröckelt, zeigen auch die aktuellen Entwicklungen an den Finanzmärkten: Die türkische Lira sank am Freitag auf ein Rekordtief, die Aktienkurse stürzten ab.