
Irak: Massenflucht vor dem Terror der Isis
Neues Terrorregime im Irak Wer kann, flieht
Am Ende gelang den irakischen Regierungstruppen nicht einmal mehr der geordnete Rückzug. Als die Kämpfer der Terrorgruppe "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" (Isis) Mossul stürmten, flohen Tausende Soldaten in Panik. Manche von ihnen rissen sich auf der Flucht Richtung Nordosten ihre Uniformen vom Leib, bevor sie in die benachbarte kurdische Autonomieregion türmten.
Sie ließen zum Teil modernstes Kriegsgerät zurück: Auf dem Flughafen der Stadt erbeuteten die Dschihadisten mindestens einen Black-Hawk-Kampfhubschrauber. Außerdem fielen den Isis-Kämpfern Artilleriegeschütze und Humvee-Geländewagen in die Hände. Seit Mittwochvormittag kontrollieren die Milizionäre auch die größte Öl-Raffinerie des Landes in Baidschi. Am Nachmittag stürmten die militanten Islamisten auch die nördlich von Bagdad gelegene Stadt Tikrit, den Geburtsort von Ex-Diktator Saddam Hussein.
Nicht nur Regierungssoldaten sind vor den Terroristen auf der Flucht. Auch Hunderttausende Zivilisten haben sich auf den Weg in die Nachbarprovinzen gemacht. Die meisten von ihnen flüchten in die kurdischen Autonomiegebiete. Die Flüchtlinge trauen den dortigen Peschmerga-Milizen eher zu, die Dschihadisten zu bekämpfen, als der irakischen Armee.
Dschihadisten errichten Terrorregime
Die Regierungstruppen wurden vom Sturm auf die zweigrößte irakische Stadt offenbar völlig überrascht - dabei ist dies nur der vorläufige Endpunkt einer Entwicklung, die sich seit Jahren abgezeichnet hat. Direkt nach der US-geführten Invasion des Landes 2003 konzentrierten sich die militanten Islamisten auf einen Guerillakrieg gegen die Besatzungstruppen, die irakische Armee und die schiitische Bevölkerungsmehrheit. Damals ging es den Dschihadisten noch nicht darum, ganze Landstriche unter ihre Kontrolle zu bekommen, sondern der Regierung und ihren Unterstützern möglichst schwere Schäden zuzufügen.
Spätestens nach dem Abzug der meisten US-Kampftruppen aus dem Irak Ende 2011 änderten die Dschihadisten ihre Taktik. Zwar riefen sie bereits 2006 den "Islamischen Staat im Irak" mit einer eigenen Regierung aus. Realität wurde dieses quasi-staatliche Gebilde jedoch erst im Verlauf des vergangenen Jahres.
Die militanten Islamisten profitieren dabei maßgeblich vom Bürgerkrieg in Syrien. Sie werden von reichen Geldgebern aus dem arabischen Golfstaaten finanziert und sind den Rebellengruppen in Syrien daher militärisch deutlich überlegen. Sicherheitsexperten schätzen, dass die Truppe inzwischen mehr als zehntausend Kämpfer unter Waffen hat. Vor einem Jahr brachten die Dschihadisten mit dem syrischen Rakka die erste Großstadt unter ihre Kontrolle. Kurz darauf verkündete der Anführer des "Islamischen Staat im Irak" den Zusammenschluss verschiedener Gruppen zum "Islamischen Staat im Irak und in Syrien" (Isis).
Inzwischen befinden sich mindestens sieben größere Orte in beiden Ländern ganz oder teilweise in den Händen von Isis: Manbidsch, Rakka, Deir al-Sor und Abu Kamal in Syrien sowie Mossul, Falludscha und Bakuba im Irak. In den Gebieten unter ihrer Kontrolle führen die Islamisten ein drakonisches Regime ein. Selbsternannte Richter sprechen Recht auf der Grundlage der Scharia. Das Ergebnis: Ladenbesitzer, die während der Gebetszeiten ihre Geschäfte offen halten, werden öffentlich ausgepeitscht. Angeblichen Dieben werden auf dem Marktplatz die Hände abgeschlagen. Angebliche Kollaborateure werden auf offener Straße geköpft oder gekreuzigt.
Exodus der Minderheiten
Viele radikalisierte Muslime im Ausland fühlen sich von diesem Gesellschaftsbild angezogen. Keine andere Gruppe im syrischen Bürgerkrieg hat so viel Zulauf von Salafisten aus Deutschland, Großbritannien, Russland oder Nordafrika. Sie fühlen sich berufen für diesen angeblich islamischen Staat zu kämpfen.
Andersgläubige werden dagegen rücksichtslos bekämpft. In Rakka und anderen Orten haben Isis-Terroristen mehrere Sufi-Schreine zerstört. Nach Ansicht der Salafisten ist die Anbetung von muslimischen Heiligen Gotteslästerung.
Mit der Eroberung Mossuls sind weitere Minderheiten akut bedroht. Die Stadt war einst ein Zentrum zahlreicher Ostkirchen. Die konfessionelle Gewalt der vergangenen zehn Jahre hat bereits viele Christen in die Flucht getrieben, die Machtübernahme der Isis dürfte diesen Exodus weiter forcieren. Schon in den ersten Stunden nach der Einnahme der Stadt setzten die Terroristen mehrere Kirchen und schiitische Moscheen in Brand.
Nun stehen die Dschihadisten kurz vor der Grenze zur kurdischen Autonomieregion. Das Gebiet im Norden des Irak ist das einzige, in dem staatliche Strukturen noch intakt sind. Für die Regionalregierung in Arbil ist die Lage äußerst schwierig. Ihre Truppen müssen zum einen das weitere Vorrücken der Islamisten verhindern und zum anderen muss die Region Hunderttausende Flüchtlinge versorgen. Kurdistan steht damit vor der größten Herausforderung seit dem Sturz des Saddam-Regimes vor elf Jahren.