
Hebammen in Indien: Wie ein neuer Beruf die Müttersterblichkeit senken soll
Geburten in Indien "Die Frauen hier haben Angst"
Es ist kurz vor ein Uhr morgens in einem staatlichen Krankenhaus in der südindischen Stadt Hyderabad. Vier Frauen liegen nebeneinander auf Metalltischen, ihre Beine sind zur Tür hin aufgestellt, sie tragen keine Unterwäsche.
Eine weitere Frau hockt in einem dunkelblauen Kleid auf einem Tisch, sie presst und stöhnt, ihre Haare sind zerzaust. "Du machst das toll", sagt Rekha Marandi, 25. Die Hebamme hat eine Plastikschürze über ihre weiß-geblümte Bluse gezogen. Jeden Moment kann hier ein Kind zur Welt kommen.
Über der Tür zum Kreißsaal hängt ein Bild der achtarmigen Durga, umrahmt von einer Blumengirlande. Die hinduistische Göttin symbolisiert weibliche Macht. Doch hier, auf der Geburtsstation, zeigt sich diese selten. Nur ein Vorhang trennt den Kreißsaal vom Vorraum. Schwestern und Ärztinnen eilen hindurch, lassen ihn offen. Rekhas Kollegin zieht ihn immer wieder zu. Es ist nur ein Stück Stoff, aber die einzige Privatsphäre, die sie den Frauen geben kann.

Rekha und ihre Kolleginnen sind einige der wenigen Hebammen in Indien. Sie wurden in einer Privatklinik ausgebildet. Am Wochenende leisten sie Nachtschichten im staatlichen Krankenhaus. Sie lernen hier, im Akkord Kinder auf die Welt zu bringen - und sollen die Geburtskultur im Kreißsaal verändern. Als sie das erste Mal auf dieser Geburtsstation aushalf, war Rekha schockiert. "Die Frauen werden oft schlecht behandelt", sagt sie. Außer im Kreißsaal kümmert sich um die Frauen niemand. Begleitpersonen dürfen nicht hinein.
"Alles, was den weiblichen Körper betrifft, gilt als unrein"
Geburt ist in Indien, im bevölkerungsmäßig zweitgrößten Land der Erde, nicht nur ein Kampf um Leben, sondern auch um Würde und Selbstbestimmung. Bislang hat Indien Hebammen nicht als eigenständige Profession ausgebildet - im Gegensatz etwa zu den Nachbarländern Bangladesch oder Sri Lanka. Das soll sich nun ändern.
Im Dezember 2018 verkündete die indische Regierung , eine offizielle Hebammenausbildung anzubieten. 18 Monate soll die Zusatzausbildung für Krankenschwestern dauern, ein nationales und fünf regionale Trainingsinstitute sollen über das gesamte Land verteilt entstehen. "Wir sehen Hebammen als effektives Instrument, um die Mütter- und Kindersterblichkeit weiter zu senken", sagt Dinesh Baswal vom Gesundheitsministerium.

Mutter mit Neugeborenem in Hyderabad, Indien
Foto: Saumya Khandelwal2016 starb dem nationalen Gesundheitsbericht zufolge eine von 769 Frauen infolge einer Schwangerschaft - noch immer eine weit höhere Rate, als die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Uno) als Obergrenze bis 2030 vorsehen. Insgesamt sind es 32.000 Frauen pro Jahr in Indien, fast 90 jeden Tag. Die meisten dieser Frauen verbluten oder sterben an Infektionen. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wäre es möglich, die Müttersterblichkeit um mehr als 80 Prozent zu reduzieren, wenn es eine umfassende Betreuung durch Hebammen gäbe.
Doch bislang fehlte in Indien das Bewusstsein dafür, was Hebammen genau machen. Der englische Begriff "midwife" bezeichnet in Indien alle Frauen, die dabei helfen, Kinder auf die Welt zu bringen: traditionelle Geburtshelferinnen etwa, sogenannte "Dais", deren Wissen über Generationen weitergegeben wird, die aber keine Notfälle versorgen können. Vijaya Krishnan, Leiterin eines der wenigen Geburtshäuser in Indien, glaubt, dass der politische Druck, Hebammen staatlich auszubilden, bislang vor allem fehlte, weil es nur Frauen betrifft: "Alles, was den weiblichen Körper betrifft, gilt als unrein", sagt sie.

Angehörige dürfen nicht mit in den Kreißsaal. Viele schlafen auf den Stufen davor.
Foto: Saumya KhandelwalIn der indischen IT-Metropole Hyderabad kämpfen Politikerinnen, Gynäkologinnen und Hebammen schon seit Jahren dafür, dass Frauen eine Geburt nicht nur überleben, sondern dabei auch besser versorgt werden. Hier, in der Hauptstadt des Bundesstaates Telangana, zeigt sich bereits im Kleinen, was nun im Großen gelingen soll.
Während ihrer Nachtschicht läuft Rekha zwischen Kreißsaal und Wehenzimmer hin und her. Bhobi, die Frau im dunkelblauen Kleid, wimmert: "Ich habe Angst." Es ist ihr erstes Kind. Die 25-Jährige möchte ihren Ehemann sehen, der vor dem Krankenhauseingang in der Dunkelheit wartet. Doch die Assistenzärztin sagt: "Du musst hierbleiben. Wenn du läufst, platzt deine Fruchtblase." Rekha beschwichtigt die Ärztin und nach ein paar Minuten darf Bhobi gehen. "Anfangs durften wir hier gar nichts machen", sagt Rekhas Kollegin später. "Inzwischen haben die Ärzte einige unserer Methoden übernommen."
Geschlagen, gekniffen, angeschrien
Verstaubte Überzeugungen prägen noch immer die Geburtskultur in vielen indischen Krankenhäusern: Eine Frau soll während der Wehen nicht laufen, sie darf kein Wasser trinken, soll auf dem Rücken gebären, Männer haben im Kreißsaal nichts zu suchen - und die werdenden Mütter sollen sich nicht so anstellen.
Die Aktivistin Mallavarapu Prakasamma, Gründerin des indischen Hebammenverbands, meint: "Es geht um Menschlichkeit. Frauen dürfen nicht wie Tiere behandelt werden." Doch mehrere Hebammen, so erzählen sie es, haben erlebt, wie Ärzte und Schwestern Schwangere kneifen oder mit Geburtszangen auf deren Beine schlagen.
Und immer wieder tauchen Berichte aus Kreißsälen auf, in denen Ärzte und Schwestern Schwangere beleidigen: Warum schreist du jetzt? Hast du nicht vor Lust geschrien, als du Sex hattest? Oder auch: Wenn du nicht besser presst, stirbt dein Kind! Solche Drohungen hat auch Rekha Marandi schon gehört, sagt sie.

Hebammen in Indien: Wie ein neuer Beruf die Müttersterblichkeit senken soll
Rekha und ihre Kolleginnen wollen diesen Umgang ändern. Sie streicht Bhobi über den Rücken, zeigt ihr Kniebeugen und wie sie den Schmerz wegatmet. "Du bist so nett zu mir", flüstert Bhobi. Rekha sagt: "Die Frauen hier sind ungebildet, und sie haben Angst. Sie wissen nicht, was in ihrem Körper vorgeht."
Ihren Beruf erlernt haben die Hebammen ein paar Kilometer weiter in den Krankenhäusern der Gynäkologin Evita Fernandez. Die 65-Jährige trägt ihre grauen Haare kurz und ein goldenes Kreuz um den Hals. Ihre Großtante brachte einst die Kinder des Nizams auf die Welt, der islamischen Hoheit der Stadt. Ihre Eltern eröffneten später eine kleine Frauenklinik.
Nachdem Evita Fernandez 1996 das Krankenhaus übernommen hatte, betreuten sie bald täglich Hunderte Frauen, darunter immer mehr Notfälle. Einige Frauen starben. Fernandez las viel über Müttersterblichkeit. "Ich verstand: Hätten wir Hebammen im Land, die sich umfassend um die Frauen kümmern könnten, würde das nicht passieren." 2011 begann sie, einen Teil ihrer Krankenschwestern zu Hebammen ausbilden zu lassen.
Weniger Hausgeburten
Um die Müttersterblichkeit zu senken, hatte Indien lange darauf gesetzt, die Zahl der Hausgeburten zu reduzieren. Im ganzen Land wurden niedrigschwellige Gesundheitszentren geschaffen, und Frauen aus armen Verhältnissen bekommen seither Geld, wenn sie unter medizinischer Betreuung entbinden.
Das Land hatte damit Erfolg: Mehr als drei Viertel aller Geburten finden inzwischen in Krankenhäusern statt. Die hohe Müttersterblichkeitsrate sank zwischen 1990 und 2015 um zwei Drittel. Und trotzdem liegt Indien immer noch weit über Raten etwa der westlichen Industriestaaten.

Patienten auf den Fluren des Fernandez Hospital in Hyderabad
Foto: Saumya KhandelwalDie Tendenz zu Krankenhaus-Geburten hatte zudem einen ungewollten Nebeneffekt: Die Kaiserschnittrate in Indien verdoppelte sich innerhalb von zehn Jahren auf knapp zwanzig Prozent. Doch in manchen indischen Bundesstaaten wie etwa Telangana liegt sie weit höher: Eine Umfrage unter mehr als 7000 Haushalten zeigte, dass dort die Rate in privaten Krankenhäusern sogar bei 74,9 Prozent; in staatlichen bei etwa 41 Prozent lag.
Kaiserschnitte können Leben retten, doch die Autoren einer Studie des Indian Institute of Management in Ahmedabad vom vergangenen November nehmen an: Um die 900.000 Kaiserschnitte in privaten Einrichtungen wären vermeidbar. Die Krankenhäuser aber verdienen daran. Ein Kaiserschnitt dauert weniger als eine Stunde und kann zwischen 65 Euro und 500 Euro oder mehr kosten. Eine natürliche Geburt kann hingegen mehrere Tage dauern und bringt dem Krankenhaus nur die Hälfte ein oder weniger. Auch für staatliche Krankenhäuser hat der Eingriff Vorteile: Sie sind häufig unterbesetzt und können so besser planen.
In den Fernandez-Krankenhäusern wird inzwischen jede dritte Geburt von Hebammen betreut. Die Zahl der Periduralanästhesien habe sich seitdem halbiert, genau wie die Zahl der Kaiserschnitte, so Fernandez.

Das Ehepaar Ravali (l.) und Phani Garimella planen, auch ihr zweites Kind in dem Geburtshaus Sanctum in Hyderabad zu bekommen.
Foto: Saumya KhandelwalDie Rückkehr zu natürlichen Geburten trifft auch den Zeitgeist der wohlhabenderen Inder. Eine wachsende Gruppe junger, aufgeklärter Paare sucht längst nach Alternativen wie Geburtshäusern, von denen es bislang nur wenige gibt. Für die Paare sind Geburten nicht mehr nur Frauensache, sie wollen mitbestimmen, wie sie ihre Kinder zur Welt bringen.
Um halb zwei Uhr ertönt ein Schrei aus dem Kreißsaal des staatlichen Krankenhauses in Hyderabad. Die Sicherheitsfrau vor der Geburtsstation holt den Ehemann von Bhobi auf den Krankenhausflur. Er lächelt, als die Krankenschwester ihm das Kind in den Arm legt. Ein Sohn. Dann bringt sie es auf die Neugeborenenstation.

Um zehn nach eins kommt das Kind auf die Welt. Es ist ein Junge. Rekha bringt das Kind unter die Wärmelampe.Midwife Rekha Marandi takes the new born to an incubator after birth in the labour room at Government Maternity Hospital, Sultan Bazaar in Hyderabad, India, 16 November, 2018. Photo by Saumya Khandelwal
Foto: Saumya KhandelwalEine halbe Stunde später verlässt die Hebamme Rekha Marandi den Kreißsaal, seift sich die Arme bis zum Ellenbogen ein, desinfiziert sich die Hände. Insgesamt fünf Kinder kamen in der letzten Stunde zur Welt.
Im Nebenzimmer isst Rakha mit ihren beiden Kolleginnen Reis mit Hühnchen. Sie reden über die junge Frau. "Es hat mich gestört, dass die Ärztinnen wollten, dass sie so schnell gebärt", sagt Rekhas Kollegin Jismy. "Wir sagten ihnen, sie sollen mit dem Kaiserschnitt warten." Es sei Bhobis erstes Kind, das könne mehrere Stunden dauern.
Am Ende hat die 25-Jährige ihren Sohn natürlich zur Welt gebracht.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
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