Probleme in der größten Demokratie der Welt Warum 21 Millionen Inderinnen nicht wählen dürfen

Fast 900 Millionen Menschen sind ab April aufgerufen, ein neues indisches Parlament zu wählen. Allerdings tauchen in den Registern viele Frauen nicht auf. Ein Fehler - oder Masche?
Wählerinnen bei den Parlamentswahlen 2014

Wählerinnen bei den Parlamentswahlen 2014

Foto: Amit Dave/ REUTERS

In wenigen Tagen beginnen in der größten Demokratie der Welt die Parlamentswahlen. Fast 900 Millionen Wahlberechtigte dürfen in Indien zwischen 11. April und 19. Mai ihre Stimme abgeben. Kurz vor der Megaabstimmung haben zwei Journalisten jedoch Unregelmäßigkeiten in den Wählerregistern entdeckt. Etwa 21 Millionen wahlberechtigte Frauen dürfen nicht mitmachen - dabei könnten ihre Stimmen in vielen Wahlkreisen über Sieg und Niederlage der Kandidaten entscheiden.

Für ihr Buch "The Verdict - Decoding India's Election" haben die Wahlexperten Prannoy Roy und Dorab Sopariwala den indischen Zensus mit aktuellen Wählerlisten verglichen. So haben sie die 21 Millionen fehlenden Wählerinnen entdeckt. Alle diese Frauen sind mindestens 18 Jahre alt und besitzen die indische Staatsbürgerschaft, allerdings sind sie nicht zur Wahl registriert. Und wer nicht registriert ist, der darf seine Stimme auch nicht abgeben. Warum aber tauchen Millionen Wählerinnen nicht in den Wahllisten auf?

"Wir wissen es nicht genau", sagte Sopariwala in einem Interview mit dem Magazin "Outlook India".  Möglich wären technische Probleme. Auch dürfte zumindest ein geringer Teil der Frauen nach ihrer Heirat den Wohnort gewechselt haben, ohne sich erneut zu registrieren, sagte Roy der britischen BBC .

Am wahrscheinlichsten sei jedoch, dass die gesellschaftliche Stellung von Frauen in Indien für die Lücke verantwortlich sei. Dafür spräche auch, dass die Experten ein Gefälle zwischen dem traditionelleren Norden und dem liberaleren Süden identifizieren konnten. Laut ihren Daten entfällt etwa die Hälfte der fehlenden Wählerinnen auf die drei großen nördlichen Bundesstaaten Uttar Pradesh, Maharashtra and Rajasthan

Sozialer Widerstand gegen Wählerinnen

Das deckt sich mit den Beobachtungen eines früheren indischen Wahlkommissars. "Es gibt immer noch sozialen Widerstand gegen die Registrierung von Wählerinnen", sagte er der BBC . "Ich habe von Eltern gehört, die ihre Töchter nicht registrieren lassen, damit ihr Alter nicht bekannt wird. So sollen ihre Heiratschancen nicht negativ beeinflusst werden", so der Mann weiter. Auch hätte man sich lange nicht darum bemüht, die weibliche Wählerschaft ins politische System einzubinden. Ein Grund zur Beunruhigung sei das jedoch nicht, so seine Einschätzung. Schließlich würden die Zahlen der zur Wahl registrierten Frauen seit Jahren steigen.

Und tatsächlich gehen auch Roy und Sopariwala davon aus, dass die Wahlbeteiligung von Frauen in diesem Jahr höher liegen wird als die der Männer. Bei Regionalwahlen ist das bereits mehrfach der Fall gewesen, bei Parlamentswahl bisher jedoch noch nie.

Dass 21 Millionen Wählerinnen fehlen, sei dennoch schockierend und absolut inakzeptabel, sagte Roy in einem Gespräch mit "Outlook India" . "Es ist eine Krise, gegen die man etwas tun muss", so der Journalist weiter. In Indien gilt das Mehrheitswahlrecht. In insgesamt 543 Wahlkreisen werden ebenso viele Abgeordnete mit einfacher Mehrheit gewählt. Der Premierminister wird anschließend vom Präsidenten ernannt. Er muss allerdings das Vertrauen des Parlaments haben.

Favorit in den Parlamentswahlen ist das von Premierminister Narendra Modi angeführte Parteienbündnis "Nationale Demokratische Allianz" (NDA). 2014 holte die NDA die absolute Mehrheit, und auch in aktuellen Umfragen liegt sie vorn. Allerdings ist Modi in den vergangenen Monaten zunehmend unter Druck geraten, vor allem wegen der noch immer fehlenden Millionen Arbeitsplätze. Eine erneute absolute Mehrheit ist ihm daher längst nicht mehr sicher.

Knappe Entscheidungen in vielen Wahlkreisen

Als größter Rivale gilt das von der traditionellen Kongresspartei angeführte Bündnis "Vereinigte Progressive Allianz" (UPA). 2014 erlitt die UPA eine historische Niederlage. Nach drei erfolgreichen Regionalwahlen geht die Partei nun jedoch gestärkt in die Parlamentswahlen. Hinzu kommt, dass mit Priyanka Gandhi eine charismatische Figur an die Spitze der Kongresspartei getreten ist.

Die Enkelin der früheren Premierministerin Indira Gandhi hat lange gezögert, in die Politik zu gehen. Nun verschafft sie ihrer Partei einen Aufschwung. Und auch mehrere Regionalparteien haben ihre Macht in den vergangenen Jahren ausgebaut. In vielen Wahlkreisen dürfte es also eng werden. Wie eng, verdeutlichen Roy und Sopariwala in ihrem Buch mit einem Rechenbeispiel.

Sie haben die fehlenden Wählerinnen auf die einzelnen Wahlkreise übertragen und sind auf je 38.000 Stimmen gekommen. Die Experten prognostizieren, dass in jedem fünften Wahlkreis weniger als diese Anzahl an Stimmen wahlentscheidend sein wird.

Vor allem ein Bundesstaat dürfte wahlentscheidend werden

Berücksichtigt man das Nord-Süd-Gefälle, wird noch deutlicher, welchen Einfluss das auf die Wahl haben könnte. Denn laut Roy und Sopariwala fehlen allein im Bundesstaat Uttar Pradesh sechs Millionen Frauen auf den Wählerlisten - 80.000 in jedem einzelnen Wahlkreis des Staates. Das ist besonders brisant, da Uttar Pradesh als größter Bundesstaat Indiens traditionell als wahlentscheidend gilt. Wer dort die meisten Mandate holt, hat gute Chancen auf die absolute Mehrheit im Parlament.

Kurz vor der Wahl lässt sich die Situation kaum beheben. Die Wählerlisten sind geschlossen, Nachregistrierungen nicht mehr möglich. In der BBC schlägt Roy  daher vor, dass jede Inderin ihre Stimme abgeben darf, wenn sie im Wahllokal nachweisen kann, dass sie mindestens 18 Jahre alt ist. Man wisse, dass dahinter einige gesellschaftliche Gründe stehen.

"Wir wissen auch, dass man durch die Kontrolle der Wahlbeteiligung die Ergebnisse lenken kann", sagte Roy der BBC weiter: "Es muss untersucht werden, ob das nicht der wahre Grund für die fehlenden Wählerinnen ist."

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