Russlands Strategie auf der Krim "Was der Westen denkt, ist Putin inzwischen egal"

Russland-Unterstützer auf der Krim: "Putin demonstriert militärische Stärke"
Foto: Sean Gallup/ Getty Images
Dmitrij Trenin, russischer Oberst a.D., leitet das Moskauer Carnegie-Zentrum. Er zählt zu Russlands führenden Außenpolitik-Experten. Er ist Autor der Bücher "Russland - Die gestrandete Weltmacht" und "Post-Imperium" sowie regelmäßiger Beiträge für das US-Magazin "Foreign Affairs".
SPIEGEL ONLINE: Die Bilder sind dramatisch: Bewaffnete Einheiten besetzen Flughäfen, Hubschrauber des russischen Militärs überfliegen die Halbinsel, Einheiten belagern Grenzposten. Steht die Abspaltung der Krim von der Ukraine bevor?
Trenin: Wir sind Zeugen eines Nervenkriegs. Ich denke nicht, dass der Kreml schon eine abschließende Entscheidung über das Schicksal der Krim getroffen hat. Aber Moskau handelt hart, schnell und ohne Rücksicht auf den Westen. Wladimir Putin spürt, dass Russland wie zu Zeiten von Alexander III. nur zwei Verbündete hat: die Armee und die Flotte. Andere hat Moskau in der Krim-Frage derzeit tatsächlich nicht.
SPIEGEL ONLINE: Ist Putin bereit, für die Krim Krieg zu führen?
Trenin: Ich denke nicht. Im Gegenteil: Er glaubt, dass er durch einen begrenzten Militäreinsatz jetzt einen späteren Krieg verhindern kann. Russland will Blutvergießen auf der Krim vermeiden, deshalb soll das Militär Zufahrtswege blockieren. Das soll verhindern, dass Einheiten der ukrainischen Armee oder Polizei auf die Krim vordringen oder Freiwilligentrupps ukrainischer Nationalisten. Zugleich wird die Krim wirtschaftliche Hilfe aus Russland bekommen. Es wird Gespräche mit den Tataren geben, um zu verhindern, dass sich der Konflikt ausweitet. Aber das Ziel ist noch nicht bestimmt.
SPIEGEL ONLINE: Die Duma in Moskau bereitet gerade ein Gesetz vor, das den Beitritt zur Russischen Föderation erleichtert.
Trenin: Das sind bislang Initiativen von Abgeordneten. Der wichtigste Mann aber, Wladimir Putin, hat sich noch nicht entschieden, was mit der Krim geschehen soll. Es ist zu früh für eine Entscheidung, die Lage in der Ukraine ändert sich rasend schnell.
SPIEGEL ONLINE: Ist die Besetzung von öffentlichen Gebäuden in einem Nachbarland nicht unverhältnismäßig?
Trenin: Putin glaubt, schnell handeln zu müssen, entschlossen, und wenn nötig, wird er Entscheidungen treffen, die auch schmerzhaft sein können. Er demonstriert militärische Stärke: Das soll Kiew klarmachen, dass sich eine Einmischung auf der Krim nicht lohnt. Washington soll erkennen, dass auf der Krim Kerninteressen Russlands betroffen sind.
SPIEGEL ONLINE: Bestand überhaupt die Gefahr eines Blutvergießens? Russland hat 150.000 Soldaten an den Westgrenzen in Alarmbereitschaft versetzt. Ist das nicht überzogen?
Trenin: Es ist eine scharfe Reaktion, sie passt zu Putins Charakter. Er hat keinerlei Vertrauen gegenüber den Ukrainern. Unter denen, die jetzt an die Macht gekommen sind, finden sich ja auch einige, die gar keinen Hehl daraus machen, Feinde Russlands zu sein. Dmitrij Jarosch zum Beispiel, der Chef des "Rechten Sektors". Die Krim ist ein neuralgischer Punkt für Kiew, und es gab auch in der Vergangenheit schon Aufmärsche ukrainischer Nationalisten auf der Halbinsel.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben also keine Zweifel, dass die Besetzer der Flughäfen russische Militärs sind?
Trenin: Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich sitze hier an meinem Schreibtisch in Moskau. Ich sehe nur, dass diese Leute diszipliniert agieren, sehr zielgerichtet, professionell und klar im Interesse Russlands.
SPIEGEL ONLINE: Ist dem Kreml die Reaktion des Westens egal?
Trenin: Russland glaubt, dass die EU Wiktor Janukowitsch Hand in Hand mit der Opposition aus dem Amt gedrängt hat. Europa habe auch geschwiegen, als die Übereinkunft mit dem Präsidenten vor einer Woche verletzt wurde, auf Druck des Maidan. Ja, Empörung in der westlichen Öffentlichkeit ist dem Kreml egal, inzwischen zumindest. Putin und Russland sind in den vergangenen Monaten im Westen so gründlich dämonisiert worden, dass Putin heute nicht glaubt, dass es noch schlimmer für ihn kommen kann.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie?
Trenin: Putin wurde zuletzt ja schon mit Menschheitsunholden wie Gaddafi oder Assad verglichen. Russlands Image ist so schlecht, dass der Kreml nichts mehr zu verlieren hat. Der Westen hat so Einflussmöglichkeiten verloren. Früher hat man sich in Moskau vor jeder Entscheidung gefragt, wie sie wohl im Westen aufgenommen wird. Was wird Berlin sagen? Das ist vorbei. Diese Einstellung hat sich noch verstärkt während der Olympischen Spiele. In Russland hat man den Eindruck gewonnen, die westliche Presse sehne sich gerade danach, dass in Sotschi etwas Schlimmes passieren möge.
SPIEGEL ONLINE: Hofft der Kreml auf die Spaltung der Ukraine?
Trenin: Für das Moskauer Establishment wäre das wohl der beste Ausgang. Die westlichen Gebiete waren nie wirklich Teil des russischen Imperiums, wurden nie russisch sozialisiert. Im Süden und Osten, den wirtschaftlich starken Regionen, könnte ein Russland freundlich gesinnter Staat entstehen. Wahrscheinlicher ist aber eine Föderalisierung. Moskau hätte stärkeren Einfluss auf Süden und Osten, die Außen- und Sicherheitspolitik würde aber in Kiew gemacht. Eine solche Ukraine wäre wohl nicht Mitglied der Nato und auch nicht der EU.
SPIEGEL ONLINE: Die Nationalisten sprechen von einer "nationalen Revolution"...
Trenin: Der Maidan hat leider die Chance verpasst, sich zu einem Aufstand gegen die Korruption zu wandeln. Alle ukrainischen Machthaber der vergangenen Jahre waren korrupt, wenn es auch selten so offensichtlich und so widerlich war wie bei Janukowitsch. Der Kampf gegen das korrupte System hätte die Menschen einen können in Ost und West. Aber die Nationalisten haben die Revolution gekapert und gestohlen.
SPIEGEL ONLINE: Wie lange werden die Militäroperationen auf der Krim andauern?
Trenin: Ich glaube nicht, dass sie noch lange währen werden. Russland hat ein klares Signal an die Führung in Kiew gesendet. Außerdem haben die Vorbereitungen für das Krim-Referendum begonnen.
SPIEGEL ONLINE: Warum gewährt Russland Janukowitsch Unterschlupf?
Trenin: Janukowitsch hat immer nur seine eigenen Interessen verfolgt, Moskau hat kein Vertrauen in ihn. Wäre er jetzt in Kiew, könnte er Russland anschwärzen, nur um seine eigene Haut zu retten. Für Russland ist es besser, ihn unter Kontrolle zu haben.