Interview mit russischem Oppositionspolitiker "Die Angst ist sehr groß"

Wladimir Ryschkow ist einer der letzten liberalen oppositionellen Abgeordneten in der russischen Staatsduma. Im SPIEGEL-ONLINE- Interview spricht er über Russlands mangelnde Erfahrung mit Demokratie, die Folgen des Mordes an der Journalistin Politkowskaja und das autoritäre Regime von Präsident Putin.

SPIEGEL ONLINE: Nach siebzig Jahren Sowjetherrschaft erlebte Russland wilde Wendejahre – wo steht Ihr Land heute?

Ryschkow: Vor den sieben Jahrzehnten Sowjetunion hatten wir 900 Jahre Zarenmonarchie. Der Zar war Gesetzgeber und Regierungschef in einer Person. Noch vor 150 Jahren waren 85 Prozent der Russen Leibeigene, faktisch Sklaven der Grundherren. Daher ist es nicht einfach, in Russland eine Demokratie aufzubauen. Den ersten Versuch ab 1906, mit einem Parlament, der Duma Demokratie zu wagen, haben die Bolschewiki 1917 zerstört. Der zweite Anlauf begann 1989 zu Zeiten Michael Gorbatschows. Ich halte ihn für einen der bedeutendsten Politiker des zwanzigsten Jahrhunderts. In den letzten Jahren ist Russland unter Putin wieder ein autoritär regiertes Land geworden. Der Präsident hat ein Regime errichtet, das der Zarenmacht ähnelt. Beide Kammern des Parlaments sind ihm hörig.

SPIEGEL ONLINE: Welchen Einfluss haben Sie als liberaler Abgeordneter?

Ryschkow: Wir sind fünf Leute von 450, knapp über ein Prozent. In der nächsten Duma, die im Dezember 2007 gewählt werden soll, wird es voraussichtlich gar keinen liberalen Abgeordneten mehr geben. Es dürfen jetzt keine Direktkandidaten mehr antreten, wie ich einer bin, sondern nur noch Parteilisten, die eine Sieben-Prozent-Hürde überwinden müssen. Das vom Kreml gelenkte Staatsfernsehen sorgt dafür, dass Kritiker nicht zu Wort kommen.

SPIEGEL ONLINE: Wer hat da noch Chancen, ins Parlament einzuziehen?

Ryschkow: In die Duma kommen sicher die Partei "Einiges Russland", geführt vom Sprecher der einen Kammer des Parlaments und "Gerechtes Russland", geleitet vom Vorsitzenden der anderen Parlamentskammer. Beide sind persönliche Freunde Putins. Mit Mandaten darf auch die Partei von Wladimir Schirinowski rechnen, die sich "liberaldemokratisch" nennt, es aber nicht ist: Das ist eine chauvinistische, antidemokratische Partei. Als einzige Oppositionskraft werden die Kommunisten in die Duma einziehen.

SPIEGEL ONLINE: Das erinnert Sie an alte Zeiten?

Ryschkow: Das nenne ich Putins Dresdner System, es erinnert an die DDR, wo sich die SED ein gelenktes Mehrparteiensystem organisierte, mit einer "CDU" und "Liberaldemokraten" und "Nationaldemokraten", doppelt kontrolliert von der SED und der Stasi. Putin hat das fünf Jahre lang aufmerksam in Dresden beobachtet, er hat auch gesehen, wie die DDR sich damit geschickt nach aussen präsentierte. In Putins System soll es so aussehen, als gebe es eine freie Konkurrenz mehrerer Parteien – eine Veranstaltung für dumme Ausländer.

SPIEGEL ONLINE: Ex-Kanzler Gerhard Schröder hat Putin kürzlich wieder einen "lupenreinen Demokraten" genannt. Sie widersprechen ihm?

Ryschkow: Ich denke, er bekommt viel Geld dafür, dass er sich so äußert. Und nun zahlt Gasprom als Sponsor dem Gelsenkirchener Fußballverein Schalke 04 jährlich 12 Millionen Euro, weil Schröder ein Anhänger dieses Klubs ist. Das finde ich ethisch unvertretbar angesichts der Tatsache, dass ein Fünftel der Russen unter der Armutsgrenze lebt. Die deutsche Öffentlichkeit sollte sich fragen, ob solche Vereinbarungen moralisch zu rechtfertigen sind.

SPIEGEL ONLINE: Wie sehr hat der Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja unabhängige Journalisten und Oppositionelle verunsichert?

Ryschkow: Die Angst ist natürlich sehr groß. In den letzten Jahren sind in Russland mehr als einhundert Journalisten umgebracht worden. Jeder mutige Redakteur setzt sein Leben aufs Spiel, wenn er etwas Brisantes recherchiert. Die meisten dieser Morde werden nicht aufgeklärt, die Täter können auf Straffreiheit hoffen.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie auch Angst?

Ryschkow: Ich will nicht behaupten, dass ich frei von Angst bin. Zumal regelmäßig Listen potenzieller Opfer an die Öffentlichkeit lanciert werden, auf denen sich auch mein Name findet. Ein Schutz wäre schon, wenn die Mörder von Anna Politkowskaja gefunden werden, wenn Killer unausweichlich mit Bestrafung zu rechnen hätten.

SPIEGEL ONLINE: Auch Sie sind Autor der Nowaja Gaseta, dem Blatt, in dem Politkowskaja schrieb. Sind Sie in diesem Zusammenhang auch schon bedroht worden?

Ryschkow: Nicht direkt. Es gab aber Versuche Kreml-konformer Abgeordneter, in der Ethik-Kommission der Duma meine Kolumnen als Beleidigung von Ehre und Würde darzustellen. Erst kürzlich rief mich ein Abgeordneter und pensionierter Geheimdienst-General an und beschwerte sich, dass ich seine Ausfälle gegen Georgier mit Hitlers Ausführungen über Juden und Zigeuner verglichen hatte.

SPIEGEL ONLINE: In Deutschland wurde die Aufklärung über die Nazizeit von der Generation der 68er vorangetrieben. Wir haben den Eindruck, dass die Zeit des Kommunismus in Russland nicht komplett aufgearbeitet wurde. Kann die Jugend in Russland heute diese Aufgabe angehen, hat sie ein Interesse daran?

Ryschkow: Wir haben diesen Weg nur zur Hälfte hinter uns gebracht. Gorbatschow hat Archive der Stalinzeit zugänglich gemacht, Opfer von Verfolgung und Terror wurden rehabilitiert. Unter Stalin waren ja Millionen Menschen unter falschen Anschuldigungen als "Volksfeinde" in Lager verschleppt und Millionen getötet worden.

SPIEGEL ONLINE: Und die kritische Beschäftigung mit der Vergangenheit ist jetzt offiziell nicht mehr erwünscht?

Ryschkow: Mit der Aufarbeitung und den Rehabilitierungen ist unter Putin praktisch Schluss gemacht worden. Immer häufiger erleben wir, dass Stalin uns als verdienstvolle Figur der russischen Geschichte präsentiert wird. Es sieht aus, als sei die Haltung des Kreml gegenüber Stalin ethisch neutral: Er war im Ganzen nicht gut und nicht schlecht, hatte helle und dunkle Seiten. Auf Deutschland umgemünzt hieße das: Hitler hat die Autobahnen gebaut, es gab keine Arbeitslosigkeit und die Juden mussten im Lager arbeiten. Das Gefährliche ist, dass damit der Weg zu neuen Repressalien geebnet wird.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es in Russland heute wieder politische Gefangene?

Ryschkow: Der Name Michail Chodorkowski, Ex- Chef der Ölkonzerrns "Jukos" ist wohl inzwischen weltweit bekannt. Weniger bekannt ist, dass zwanzig Mitglieder einer linksradikalen Organisation, der Nationalbolschewistischen Partei von Eduard Limonow in Haft sitzen – unter absurden Anschuldigungen. In meiner Region, im Altai ist der 23-jährige Dmitri Kolessnikow inhaftiert, ein örtlicher Anführer dieser Partei. Der wurde bei einer nicht genehmigten Kundgebung verhaftet und soll danach auf der Polizeiwache drei Polizisten verprügelt haben – dabei ist er ein eher schmächtiger Typ, kein Schwarzenegger. Weitere zehn junge Leute aus dieser Partei sitzen in Moskau ein, weil sie einen Empfangsraum der Präsidentenadministration gewaltfrei besetzt hatten – daraus hat das Gericht den Versuch einer gewaltsamen Machtergreifung gemacht.

SPIEGEL ONLINE: Die russische Opposition diskutiert jetzt, ob es überhaupt Sinn macht, sich an den nächsten Duma-Wahlen zu beteiligen. Ex- Premier Michail Kassjanow, einer der Wortführer der Opposition, ruft zum Boykott der Wahlen auf. Sie auch?

Ryschkow: Vor einem ähnlichen Dilemma stand auch schon die Opposition in unserem Nachbarland Weißrussland. Es war ja abzusehen, dass es keine fairen Wahlen geben wird. Dort hat die Opposition aber die Möglichkeit genutzt, an die Öffentlichkeit zu gehen. Wenn es eine solche Möglichkeit gibt, sollten wir sie nutzen. Sollte der Kreml die Mitwirkung der Opposition überhaupt verbieten, dann rufen wir zum Boykott auf. Das werden wir im nächsten Sommer entscheiden.

SPIEGEL ONLINE: Welch ein Russland wünschen sie sich?

Ryschkow: Russland als modernen europäischen Staat. Das europäische Modell sagt mir mehr zu, als das chinesische oder amerikanische. Da werden Menschenrechte geschützt, da ist Demokratie transparent, die Marktwirtschaft modern und der Staat garantiert freien Wettbewerb. In Europa werden Schwache vom Staat unterstützt. Russland sollte sich in diese Richtung bewegen, denn geschichtlich und kulturell ist Europa für Russland der nächste Nachbar.

Das Interview führten Uwe Klußmann und Mitglieder der Redaktion der Schülerzeitung "Spongo" aus Nürtingen, diesjähriger Sieger im SPIEGEL- Schülerzeitungswettbewerb

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