Gefährdeter Frieden in Nordirland Wer steckt hinter der neuen IRA?
In Nordirland haben republikanische Splittergruppen die IRA neu gegründet und Anschläge auf den Erzfeind Großbritannien angekündigt. Der brüchige Frieden im Land ist gefährdet. Was steckt hinter der neuen Terrorgruppe?
Belfast - Am Donnerstag berichtete der "Guardian" darüber, dass drei größere republikanische Gruppierungen sich zu einer "neuen IRA" zusammengeschlossen hätten. Der "bewaffnete Kampf" gegen britische Ziele, heißt es in einer Gründungserklärung des neuen "Generalstabs", solle nun mit vereinten Kräften geführt werden. Bereits im Juni hatte Jonathan Evans, Chef des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5, davor gewarnt, dass auch nordirische Terroristen ein Risiko für die Olympischen Spiele in London darstellen könnten.
Außerhalb Nordirlands war das eine wie das andere eine überraschende Nachricht. Den Nordirland-Konflikt hatte man weitgehend als historisch abgehakt betrachtet. Splittergruppen wie die Real IRA (RIRA) oder die konkurierende Continuity IRA (CIRA) hatte man als eine Art Nachwehe des überwunden geglaubten Konfliktes verbucht. Dass es Gruppen wie die erst 2008 formierte Republican Action Against Drugs (RAAD) gibt, hatte man außerhalb Nordirlands kaum bemerkt.
Wer also sind die Radikalen, die da so publikumswirksam das Erbe der IRA für sich beanspruchen? Ist der Konflikt nicht vorbei, sind die Menschen in Nordirland nicht froh darüber? Haben die Radikalen dort überhaupt noch Rückhalt?
Der Friede ist für das Gros der Bevölkerung eine Erleichterung. Für den Rest aber ist er eine Schmach. Aus ihrer Sicht ist er mit Zumutungen verbunden.
Für die Republikaner bedeutete das Friedensabkommen, lange mit Waffengewalt vertretene Ziele wie die Schaffung eines Vereinigten Irlands zu einem Fernziel umzudeuten, das man nur noch mit politischen Mitteln erreichen will - die Radikalen sehen das als Kapitulation. Für beide Bevölkerungsgruppen heißt es, dass nun Parteien miteinander regieren, die sich vor eineinhalb Jahrzehnten noch mit Waffengewalt bekämpften. Führende Regierungsmitglieder beider Lager hatten einst engste Beziehungen ins Terrorlager. Für viele ihrer alten Gefolgsleute sind sie nun Verräter.
Als beispielsweise Ende Juni Martin McGuinness, einst wohl Führungsmitglied der IRA und heute stellvertretender Regierungschef Nordirlands, der britischen Königin die Hand schüttelte, war das für die einen ein historischer, die Normalisierung besiegelnder Akt. Für die anderen war es der ultimative Verrat: Es hat dazu beigetragen, die Risse im republikanischen Lager zu vertiefen. Für die Hardliner sind McGuinness und seine Partei Sinn Fein, einst der politische Arm der IRA, keine legitimen Vertreter des republikanischen Lagers mehr.
Anders die RAAD. Der Friede hatte auch ein Machtvakuum in Nordirlands Städten hinterlassen. Über Jahrzehnte waren Stadtteile wie Derrys Creggan für Armee und Polizei nur unter schwerer Bewaffnung betretbar. Polizeifunktionen übten in den katholischen oder protestantischen Hardliner-Vierteln eher die Paramilitärs aus. Manche machten nach dem Friedensschluss damit weiter. Die gängige Strafe für kriminelles Verhalten innerhalb der "Community" blieb oft der Schuss in die Kniescheibe.
Kurz nach ihrer Gründung Ende 2008 ließ die RAAD-Führung wissen, dass sie sich als eine Art Anti-Drogen-Polizei verstehe. Man wolle dem Drogenhandel in Derry und den umliegenden Bezirken den Garaus machen - auf beiden Seiten der irischen Grenze. In den folgenden Jahren forderte die RAAD zahlreiche Dealer zur Auswanderung auf. Bei Nichtbefolgen drohte der Knieschuss, Bomben- oder Brandanschläge auf ihre Wohnungen.
Seit April 2009 soll die RAAD so 23 Bombenanschläge und zwei Brandanschläge verübt haben. 22 Personen wurden die Füße, Kniescheiben, Arme oder gleich alle Gliedmaßen durchschossen, nicht selten mehrmals. Viermal wurden Häuser mit Schusswaffen attackiert, viermal gab es "Razzien", um Dealer auszuheben.
So viel "Erfolg" macht populär: Vielen erschienen die RAAD-Leute anders als die RIRA-Terroristen, die mit Bomben und Mordanschlägen weitermachten, nicht wie Alt-Hardliner, sondern wie eine Art Hardcore-Robin-Hoods.
Doch spätestens Ende 2011 verschärfte die RAAD ihren Kurs. Im Februar 2012 beging sie ihren ersten Mord und kündigte bei der Gelegenheit gleich fünf weitere an. Im Frühsommer erklärte die RAAD-Führung, dass sie ab sofort auch politische Motive verfolgen werde - durch Attacken auf "britische Ziele". Im Juni und Juli gab es erstmals Angriffe gegen Polizeikräfte.
Vorzeichen einer Verschärfung?
Jetzt liegen bei vielen die Nerven blank, gerade in Derry: Die Stadt ist im nächsten Jahr nicht nur als erste nordirische Stadt überhaupt "Kulturhauptstadt Großbritanniens" - aus republikanischer Sicht ein Affront -, sondern auch Gastgeberin des Fleadh Cheoil na hÉireann, des jährlichen irischen Musik-Championats. Angesichts der erwarteten Touristenmassen kann man ein Wiederaufleben des alten Konflikts absolut nicht gebrauchen.
Doch es gibt Indizien, dass das Risiko dafür steigt. Dazu zählt nicht nur die jetzt verkündete Union von RIRA und RAAD mit der kleinen, aber besonders brutalen, vor allem in der Region Belfast aktiven Gruppe Óglaigh na hÉireann. Auch innerhalb der CIRA tobt offenbar ein Machtkampf. Am 24. Juli wurde in der Creggan Jimmy D., bis dahin Führungsmitglied des politischen Arms der CIRA, mit durchschossenen Beinen gefunden. Die CIRA gab Statements heraus, "kriminelle Elemente" in den eigenen Reihen hinausgeworfen und eine neue Führung formiert zu haben - und nun den Kampf gegen britische Ziele weiter verfolgen zu wollen. In Derry, berichtete das katholisch geprägte "Derry Journal", steige nun die Angst vor blutigen Machtkämpfen im republikanischen Lager.
Angeheizt wurde die Stimmung dort zuletzt durch eine Welle von Verhören bekannter Republikaner durch die nordirische Polizei PSNI und den Geheimdienst MI5 im Vorfeld zu Olympia. Auch die heiß umstrittene Einleitung einer Mordermittlung in Sachen Bloody Sunday, des 1972 von britischen Soldaten in Derry verübten Massakers, das die heiße Phase des Nordirland-Konflikts einleitete, verschärft die Fronten in der Debatte über die traumatische Vergangenheit.
Dazu kommt der nur vordergründig friedliche nordirische Alltag. Mitte Juli durchsuchte die PSNI die Wohnung des Sinn-Fein-Bürgermeisters Kevin Campbell, weil man ihn verdächtigte, RAAD-Aktivisten geschützt zu haben. Am 12. Juli, dem Triumphtag der Protestanten, den diese gern damit begehen, in Festumzügen durch katholische Viertel zu ziehen, um den Sieg über die Katholiken zu feiern, gab es erstmals seit Jahren Schüsse auf die Polizei.
Selbst der Alltag sorgt für Spannungen
Und selbst der normale, friedliche Regierungsalltag sorgt noch immer für reichlich Spannungen. Anfang dieser Woche nominierte Sinn Fein den bisherigen McGuinness-Berater Paul K. als Mitglied einer Schulbehörde und sorgte für einen Proteststurm unter den Protestanten. Der Mann hatte als aktives Mitglied der PIRA 1981 drei Briten ermordet und eine langjährige Haftstrafe verbüßt, bevor er im Beamtenapparat der Regierung neue, sozialere Aufgaben fand.
Das ist Zündstoff, obwohl natürlich unvermeidlich: Die Befriedung eines Landes, in dem über 30 Jahre Bürgerkrieg herrschte, ist ohne Einbindung der einstigen Konfliktgegner nicht möglich.
Vor allem aber kommt die Reformierung der radikalen Kräfte eigentlich sogar spät: Sie folgt einem traditionsreichen Muster. Die Irish Republican Army hat etliche Häutungen und Spaltungen hinter sich. Und immer, wenn ihre dominante Strömung beginnt, Kompromisse einzugehen, spalten sich diejenigen ab, die dazu nicht bereit sind - so wie nach dem Friedensschluss CIRA und RIRA.
Es gibt Schätzungen, die das Potential der "neuen IRA" von RIRA und RAAD bei rund 600 Aktiven sehen. Nach Erkenntnissen der Briten hatte auch die Provisional IRA selbst zu ihren Hochzeiten nie mehr als 750 Leute unter Waffen. Schon die Hälfte, kommentierte der protestantisch geprägte "Belfast Telegraph", würde reichen, wieder Chaos zu verbreiten.