Irak-Heimkehrer Blair wegen katastrophaler Veteranen-Versorgung unter Druck
London Zwei Dutzend britische Irak-Veteranen haben sich seit Beginn der Invasion im März 2003 das Leben genommen, mehr als tausend Heimkehrer leben auf der Straße, die Zahl der Soldaten mit posttraumatischen Störungen steigt rapide an.
Es sind dramatische Zahlen, die die britische Öffentlichkeit aufschrecken. Offensichtlich hält die medizinische und psychische Versorgung von Soldaten, die aus dem Kriegseinsatz im Irak oder Afghanistan zurückkehren, schon lange nicht mehr mit dem tatsächlichen Bedarf Schritt.
Trotz weit verbreiteter psychischer Probleme müssten Veteranen bis zu 18 Monate auf eine Therapie des National Health Service (NHS) warten. Die britischen Tageszeitungen "Sunday Times" und "Independent on Sunday" berichten heute über dramatische Versäumnisse bei der Betreuung von Großbritanniens Kriegsheimkehrern.
Während die Regierung die Zahl der Kriegsheimkehrer mit psychischen Problemen auf 2100 beziffert, ist im "Independent on Sunday" von 21.000 die Rede. Auf Nachfrage musste das Verteidigungsministerium einräumen, dass seine Daten seit September 2006 nicht mehr aktualisiert worden seien. Gleichwohl betonte eine Sprecherin, der Anteil der Veteranen mit psychischen Problemen liege bei nur etwa zwei Prozent der gesamten Irak-Truppe.
Die Organisation "Combat Stress" wird nach eigenen Angaben derzeit von Hilfe suchenden Veteranen überlaufen, die von den britischen Gesundheitsbehörden abgewiesen worden seien. Die Zahl der Traumapatienten habe sich in den vergangenen sechs Monaten verdoppelt, nachdem das überlastete britische Militär dazu übergangenen sei, Truppen ohne ausreichende Regenerationszeit wieder in die Kampfgebiete zu schicken.
Offener Brief an Blair
Wohlfahrtsverbände, Militärexperten und Politiker schlagen Alarm. Sie werfen Premierminister Tony Blair vor, seine Pflicht zur Versorgung der Kriegsheimkehrer aus dem Irak und Afghanistan zu verletzen. Politiker und führende Köpfe aus Gesellschaft und Kultur haben nun einen offenen Brief an den Regierungschef verfasst, der heute im "Independent on Sunday" veröffentlicht wurde. Unter den Unterzeichnern sind der Dramatiker Harold Pinter, die Trägerin des alternativen Nobelpreises, Bianca Jagger, Sir Menzies Campbell, Chef der Liberal Democrats, und die Parlamentarier Peter Kilfoyle und Ben Wallace.
Sie rufen Blair dazu auf, den jungen Männern, die im Namen ihrer Heimat ihr Leben auf dem Schlachtfeld riskieren, auch nach ihrer Rückkehr die gerechte und faire Behandlung zu geben, die sie verdienen. Britische Soldaten würden derzeit nur unzureichend gegen posttraumatischen Stress behandelt. "Viele sind krank, arbeitslos, obdachlos oder sogar selbstmordgefährdet. Wir glauben, dass der militärische Vertrag gebrochen wurde, dass Sie die jungen Männer und Frauen, die ihren Befehl ausführen, vernachlässigt haben", heißt es in dem Schreiben. Die Zeitung ruft auch ihre Leser auf, den Brief zu unterschreiben, der dem Premier am 20. März übergeben werden soll, dem vierten Jahrestag des Irak-Einmarsches.
Das Ausmaß dieser "versteckten Kosten des Krieges", wie der "Independent" schreibt, kommt zu einem Zeitpunkt ans Licht, da binnen einer Woche fünf britische Soldaten im Irak und in Afghanistan getötet worden waren - die höchste Gefallenenzahl seit 2003. Von den beiden Kriegsschauplätzen sind bisher 6600 Soldaten verwundet in die Heimat zurückgeflogen worden. Nach Ansicht von Soldatenhilfsorganisationen machen diese Zahlen jedoch bei weitem nicht deutlich, wie viele Veteranen psychisch unter ihrem Einsatz litten. Sie werfen der Regierung vor, die Soldaten mit ihren Alpträumen und Flashbacks im Stich zu lassen, indem man diese nach der Schließung spezialisierter Militärkrankenhäuser in zivile Einrichtungen abschiebe.
Letztes Militärhospital schließt
Wenn am Ende des Monats auch das Haslar Hospital in Gosport dicht mache, sei Großbritannien das einzige Land in Europa ohne ein einziges ausgewiesenes Armeehospital. Verwundete sollen dann im Selly Oaks Hospital in Birmingham behandelt werden.
Doch ausgerechnet dort scheint es schon jetzt nicht mit der Versorgung zu klappen. Der "Observer" berichtet heute unter Berufung auf Beschwerdebriefe von Angehörigen verletzter Soldaten von dramatischen Missständen in dem Krankenhaus: Patienten würden Schmerzmittel vorenthalten, könnten wegen des unerträglichen Lärms auf den Stationen nicht einmal schlafen. Ein Soldat lag eine ganze Nacht in seinem eigenen Kot, nachdem das Personal sich nicht in der Lage sah, den Beutel an seinem künstlichen Darmausgang zu leeren.
Die schockierenden Vorwürfe riefen bei Oppositionspolitikern und hochrangigen Militärs Empörung hervor. Tony Blairs ehemaliger Generalstabschef Lord Guthrie sprach von skandalösen Missständen, die die Regierung und das Militär schleunigst beheben müssten. Der verteidigungspolitische Sprecher der Tories, Liam Fox, warf der Regierung "Verrat an unseren tapfersten Soldaten" vor. Fox will das Thema in der kommenden Woche im britischen Unterhaus zur Sprache bringen und verlangt von Verteidigungsminister Des Browne eine Reaktion auf jeden einzelnen Fall.
phw/AP