Irak Jetzt gilt das Gesetz des Dschungels

Anarchie und Chaos nehmen im Irak ein täglich größeres Ausmaß an. Fielen die zahllosen Plünderer zunächst über öffentliche Gebäude her, machen sie jetzt auch vor ihren eigenen Nachbarn nicht mehr Halt. Marodierende Banden ziehen bewaffnet durch die Straßen der Großstädte und nehmen sich, was sie wollen. Die Besatzer sind hilflos.



Bagdad - Bagdad, Mossul, Basra: Es ist überall das gleiche Bild. Bewaffnete Männer ziehen randalierend durch die Straßen, plündern Häuser und setzten öffentliche Gebäude in Brand. Nachdem das Machtsystem von Saddam Hussein gestürzt ist, nimmt sich das Volk nun offensichtlich alles vor, was für das Gemeinwesen bisher wichtig war - und nicht nur das. Am Freitag fuhren mit Plündergut beladene Autos durch die Städte. Polizei oder andere Sicherheitskräfte sind nicht zu sehen und die britischen und amerikansichen Soldaten greifen kaum ein.

"Die Lage hat sich seit gestern verschlimmert. Es herrscht Anarchie", berichtet ein Reuters-Korrespondent aus Bagdad. Im Stadtbezirk Mansur hätten bewaffnete Männer ein Kinderkrankenhaus gestürmt, wo Leichen von Zivilisten und Kämpfern aufgebahrt werden. Offenbar hätten sie das Gebäude plündern wollen. In der Innenstadt habe ein Mann auf den Fahrer eines Kleinlasters geschossen. Dann habe er ihn aus dem Fahrzeug gezogen, um dann mit dem Wagen wegzufahren, berichtete der Journalist. Ob der Fahrzeugbesitzer tot oder verletzt sei, sei nicht bekannt.

Ein anderer Korrespondent berichtet: "Die Plünderer sind bewaffnet und schießen auf die Menschen. Es sind viele Waffen auf den Straßen zu sehen." Ein Kameramann filmte, wie Bewaffnete auf der Straße Zivilisten beschossen. Einer der Schützen hielt dem Journalisten den Lauf seines Gewehrs vor das Gesicht und forderte ein Ende der Filmaufnahmen.

Ärzte trauen sich nicht mehr zur Arbeit

Inzwischen sind auch Krankenhäuser, die die vielen Verletzten des Krieges versorgen müssen, den Plünderern nicht mehr heilig. Zwischen gefledderten Akten liegen Medizinampullen und Tabletten im Dreck. Neueste Siemens-Medizintechnik liegt zerschlagen herum. "Hauptsache ist, dass wir das zerstören", sagen Jassir und Samen, zwei junge Männer, während sie suchend durch die Gänge der geplünderten Klinik für Privatpatienten im Zentrum von Bagdad streifen. Auf der Schulter schleppt einer eine gestohlene Sauerstoffflasche. "Wir sind das erste Mal hier", sagt der junge Mann, der Angestellter als Berufsbezeichnung nennt. Vor der Tür stehen Kleinlaster zum Abtransport bereit. Wegen der Gefahr trauen sich viele Ärzte und Schwestern nicht mehr an ihren Arbeitsplatz. In einigen Bezirken sind die Bürger zur Gegenwehr übergegangen und haben Straßensperren errichtet.

Vor dem geplünderten "Olympischen Krankenhaus" sammeln sich die Bagdader, die einen funktionierenden Staat wollen. "Wo ist die Sicherheit. Das Krankenhaus hier dient doch dem Volk", schreit ein Mann. "Wo die Amerikaner stehen, darf niemand etwas machen. Das Ölministerium haben sie nicht kaputt machen lassen", sagt er weiter. So schaden die Plünderungen auch dem Vertrauen, das die US-Soldaten nach dem Willen ihrer Regierung in Bagdad aufbauen wollen.

Auch in der drittgrößten überwiegend von Arabern bewohnten Stadt Mossul kommt es zu Plünderungen und Gewalt. "Was wir hier sehen, das kann kein Mensch glauben", schluchzt der Medizinprofessor ins Mikrofon des Reporters vom Fernsehsender al-Dschasira, während er hilflos zusieht, wie seine Landsleute Computer, Teppiche und Laborgeräte aus der Universität von Mossul in ihren Autos abtransportieren. Weit und breit ist kein Polizist zu sehen. Die Stadt war wenige Stunden zuvor von kurdischen Verbänden und US-Soldaten eingenommen worden. Dort gibt es eine seit langem währende Rivalität zischen der arabischen und der kurdischen Bevölkerung.

"Das Sagen hat, wer ein Gewehr besitzt"

"Es gibt keine Autorität mehr, das Sagen hat jetzt derjenige, der ein Gewehr besitzt", klagt ein islamischer Religionslehrer. "Wo sind die Amerikaner?", ruft ein Mann mit einer Handgranate in der Hand in der Innenstadt einem Reuters-Team zu. "Ihr dreht hier Bilder, aber wie ihr die Leute am Plündern hindert, wisst ihr nicht. Haut ab." Einige Straßen weiter werfen Plünderer vor einer ausgeräumten Bank mit irakischen Geldscheinen um sich. Andere sammeln die Scheine mit dem Konterfei von Saddam Hussein hastig auf. In einem anderen Viertel geht ein Markt in Flammen auf.

Auch Frauen, Kinder und alte Männer beteiligen sich an den Plünderungen. Viele von ihnen stammen aus Mossul, andere sind extra zum Plündern in die Stadt gekommen. Schulen und andere öffentliche Einrichtungen werden auch hier verwüstet oder in Brand gesetzt. Von US-Soldaten oder kurdischen Kämpfern ist im Stadtzentrum kaum etwas zu sehen.

Ein britischer Militärsprecher sagte am Freitag, britische Soldaten würden über die nächsten drei Tage gegen die auch in der Stadt Basra herrschende Gesetzlosigkeit vorgehen. Oberst Chris Vernon räumte ein, Plünderungen und Banditentum hätten die Arbeit der Hilfsorganisatoren in Basra unmöglich gemacht. Am Donnerstag hatte US-Präsident George W. Bush per ausgestrahltem Video zugesichert, die USA und ihre Verbündeten würden für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung sorgen.

Dennoch beginnen die Briten bereits mit der Verringerung ihrer Militärpräsenz am Golf. Das Verteidigungsministerium in London teilte mit, vier Tornado-Kampfjets würden noch am Freitag auf ihre Stützpunkte in Schottland zurückkehren. Auch etwa 550 Sanitäter und anderes medizinisches Personal würden zurückgezogen. Der Abbau von Kampfeinheiten sei jedoch nicht vorgesehen. "Es geht hier nicht etwa um den Anfang eines umfangreichen Rückzugs", verteidigte sich Staatssekretär Adam Ingram in London für die Maßnahme. Es mache aber keinen Sinn, Personal länger als nötig in der Region zu lassen.

Der US-Befehlshaber für den Golfkrieg, General Tommy Franks, erließ am Freitag neue Verhaltensregeln für die US-Truppen in Bagdad, in denen es ihnen untersagt wird, Plünderer zu erschießen.

Das Rote Kreuz forderte die US-geführten Truppen zum Eingreifen auf. "Gemäß der Genfer Konvention ist es die Sache der Besatzungsstreitkräfte, Recht und Ordnung durchzusetzen", sagte IKRK-Sprecherin Nada Doumani Reuters in Genf. Sie bezweifle, dass in Bagdad noch Krankenhäuser arbeiteten: "Die Operationssäle funktionieren nicht mehr. Auf jeden Fall gibt es keine Instrumente mehr."

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