Irak-Krise Saddam Husseins wütendster Feind
Es stapft ein Elch durch den tiefverschneiten Winterwald und knabbert am Nadelholz. Der im Wüstenscheichtum Katar ansässige arabische Fernsehsender al-Dschasira zeigt Impressionen aus der Tierwelt des Hohen Nordens. Vor dem Bildschirm sitzt im Nadelstreifenanzug und mit Krawatte Nisar al-Chasradschi in einer Kleinstadt bei Kopenhagen und zieht an seiner Marlboro. Der Mann aus Bagdad schaut sich im fernen Dänemark den Elch im Schnee auf al-Dschasira an und fühlt sich so deplaziert wie ein Kamel am Nordpol.
Die Szene entlockt dem Mann ein abfälliges Lächeln. Es ist einer dieser Momente, die ihm bewusst werden lassen, wie kümmerlich seine Lage ist. Er war der mächtigste Mann in der Armee Saddam Husseins, befehligte einst eine Million Soldaten, zog in Schlachten in den Wüsten des Mittleren Ostens und sitzt nun in einer Sozialhilfewohnung. Wenn er aus dem Fenster schaut, schaut er in den trüben, nasskalten Winter über Dänemarks größter Insel Seeland.
Nicht viel erinnert in dieser Zwei-Zimmer-Wohnung an das Leben im Irak: Die Frau des Militärs, die im tiefschwarzen Schleier-Gewand Mokka serviert, die Düfte, die einen ganzen Nachmittag lang aus der kleinen Küche ziehen, das orientalische Mahl, das gen Abend folgen wird. Ein einziger Gegenstand kündet von den glorreichen Zeiten: Neben den Porträts der drei Kinder und der vier Enkel hängt im Wohnzimmer ein Foto aus frühen Jahren. Es zeigt Chasradschi in Uniform, als sein Aufstieg in der Armee begann.
Als Offizier und General überlebte Chasradschi schwerste Schlachten. Im Krieg gegen den Iran wurde er zum Nationalhelden. Die Kuweit-Invasion Saddam Husseins dagegen habe er kritisiert - so erzählt er heute - und damit Kopf und Kragen riskiert. Daraufhin fiel er beim Löwen von Bagdad in Ungnade, wurde in die Provinz geschickt, wo er bei einem Aufstand der Schiiten lebensgefährlich verletzt wurde. Fünf Jahre lebte er unter Hausarrest immer mit der Angst, verhaftet und exekutiert zu werden. Dann wurde es ihm zuviel: Sechs Monate lang bereitete er seine Flucht vor, setzte sich schließlich über die Kurdengebiete im Nordirak ab, floh über die Türkei und Syrien nach Jordanien - eine Bond-reife Episode.
Gefangen in Dänemark
Eine Zeit lang galt er als Favorit der US-Regierung für eine Ära nach Hussein. Dann ließen die Amerikaner den Militär fallen. Ein Grund dafür mochte gewesen sein, dass er seine eigenen Vorstellungen von einem Regimewechsel hatte. Er begrüßt zwar den Druck der Amerikaner auf Hussein, doch einen Angriff will er nicht. "Ich bin Iraker, und ich bin Patriot", sagt er heute.
Ein Angriff George W. Bushs sei der falsche Weg. Er werde tausende in den Tod schicken, die Umwelt über Jahrzehnte vergiften, einen jahrelangen Bürgerkrieg in Gang bringen, das Land auf unabsehbare Zeit der amerikanischen Besatzungsmacht unterwerfen. Chasradschi hat andere Pläne. "Ich bin ein offensiver Mensch", sagt er. Doch der 64-Jährige sitzt auf seinem Sofa, raucht und raucht und kann nicht weg.
Lesen Sie im zweiten Teil, was Chasradschi vorgeworfen wird, und wie er Saddam Hussein stürzen will
Die dänische Justiz hält Chasradschi fest. Eine seit dem 1. Juni 2002 tätige Anklagebehörde zur Untersuchung besonderer internationaler Verbrechen hat gegen den irakischen General am 19. November ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, nachdem kurdische Exilanten den Asyl-Suchenden erkannt und seine Geschichte an die Behörden weitergegeben hatten. Chasradschi wird vorgeworfen, während des iranisch-irakischen Krieges (1980-88) gegen die vierte Genfer Konvention, Kriegsverbrechen gegen Zivilisten, verstoßen zu haben.
Er soll Saddam Husseins grausamste Befehle ausgeführt oder weitergegeben haben. Er soll dabei gewesen sein, als der Diktator kurdische Dörfer platt machen ließ und hunderttausende Zivilisten umsiedelte. Chefanklägerin Birgitte Vestberg, 60, vor ihrer neuen Aufgabe eine von sechs regionalen Staatsanwälten in Dänemark, prüft dabei auch, ob Chasradschi für Giftgasangriffe auf die kurdische Stadt Halabdscha im Nordirak mitverantwortlich ist, bei denen rund 5000 Menschen ums Leben kamen.
"Chemical Ali"
Chasradschi sagt, er sei unschuldig. Spezialeinheiten Saddam Husseins unter dem Kommando von Ali Hassan al-Majid, einem Cousin des Despoten, bekannt als "Chemical Ali", hätten die Operationen gegen die Kurden an der Armee vorbei geführt. Zur Stützung seiner Version legt Chasradschi ein Dekret Saddam Husseins vom März 1987 vor, in dem dieser das Kurdengebiet unter die Befehlshoheit al-Majids stellt, und Schreiben von Kurdenführern, die Chasradschi entlasten sollen. Vestberg sagt dazu völlig unbeeindruckt: "Wir stimmen damit nicht überein."
Solange die Ermittlungen laufen, muss Chasradschi polizeilich verfügbar bleiben und darf das Land nicht verlassen. "Ich lebe seit drei Jahren in einem großen Gefängnis namens Dänemark", sagt er. Wenn er vor die Tür geht, hat er die Auswahl, die eine dänische Kleinstadt ihren Bewohnern gemeinhin bietet: Nach links geht es zum Supermarkt und einem Laden für Tierfutter, nach rechts führt der Weg in die Einöde der abgeernteten Felder. Alles, aber auch alles zieht ihn am Vorabend eines Krieges gegen den Irak in den Orient. "Meine Wurzeln liegen im Irak, mein Leben, die Luft zum Atmen", sagt er. Es lägen Einladungen von verschiedenen arabischen Staaten vor, auch die verfeindeten Kurdenführer Dschalal Talabani und Massud Barsani warteten im Nordirak auf ihn.
Doch anstatt einen Aufstand anzuführen, versucht er wie ein Wüstenhund im Schnee zu überleben, hält sich über al-Dschasira und sein Fax-Gerät, das permanent Blätter ausspuckt, auf dem Laufenden und zieht mittels Telefon und Internet Drähte für den Umsturz im Irak. Hunderte von Militärs im Exil, Tausende im Land, würden ihm folgen, da ist er sich sicher. Doch sollte Chasradschi in Dänemark des Mordes schuldig gesprochen werden, wird er das Kommando abgeben müssen. Ihm droht eine Haftstrafe zwischen fünf Jahren und lebenslang.
Die Hoffnung hat er allerdings noch nicht aufgegeben. Schon oft hat sich Chasradschi aus scheinbar ausweglosen Situationen freigeschlagen. Als im Iran-Feldzug die Schlacht um Sulaymaniyah tobte, schaffte er das für unmöglich Gehaltene: Aus einer völlig demoralisierten und zahlenmäßig weit unterlegenen Truppe schaffte er eine Sieger-Armee.
"Unterschätze nie die irakische Armee"
Als er an der Front eintraf, waren die Offiziere zur Kapitulation bereit. Vor ihnen stand der Iraner mit einer Überlegenheit von sieben zu eins und attackierte unaufhörlich die irakischen Stellungen. Im Rücken führten die Kurden einen Guerillakrieg und schnitten Chasradschi den Nachschub ab.
Der Anführer rief die ratlosen Kommandeure zusammen, schwor sie ein auf einen waghalsigen Plan: "Wir attackieren anstatt zu verteidigen." Er zog alle verfügbaren Truppen zusammen und schaffte die Wende im Krieg. Binnen Wochen trieb er mit seinen Leuten die iranischen Truppen hinter die Grenze zurück. Er wurde zum Nationalhelden.
Die Schlacht um Sulaymaniyah war ein Schlüsselerlebnis für den Militär. "Unterschätze niemals die irakische Armee", warnt er. Es bedürfe nur sehr kurze Zeit, um aus einer nahezu am Boden liegenden Truppe eine siegreiche Armee zu machen. Er ist voller Zuversicht, dass diese Armee - unter seiner Führung - einen Regimewechsel im Irak schaffen kann. "Die Truppe kann Wunder vollbringen", sagt er, "sie könnte Saddam in Kürze wegfegen".
Und obwohl er nichts lieber sehen würde, als den Sturz Saddams, ist dies eine Warnung an die Amerikaner. Chasradschi, der die Genealogie seiner Familie auf die Großmutter des Propheten zurückführt - Hussein führt seinen Stammbaum auf Mohammed selbst zurück -, will die Revolution von innen. "An Saddams Sturz zu arbeiten, ist die Pflicht eines jeden ehrbaren Irakers."
Unterwerfungsgesten in Moskau
Chasradschi war nicht immer Husseins Gegner. Zum ersten Mal trafen sie sich im Winter 1971 in Moskau. "Ich hatte einen sehr positiven Eindruck von ihm", erinnert sich Chasradschi, "er war ein verständnisvoller Mann und redete in einer ganz grundsätzlichen Art und Weise". Hussein war damals Vizepräsident der Baath-Partei, die sich drei Jahre zuvor unter Führung Sajjid Hasan al-Bakrs an die Macht geputscht hatte. Der Machtwechsel hatte dazu geführt, dass Chasradschis Onkel, zuvor Generalstabschef, inhaftiert und zum Tode verurteilt, und er selbst als Militärattache nach Moskau versetzt worden war.
Hussein, damals 34, schmeichelte dem jungen Chasradschi, damals 33 Jahre alt. Ein Mann von seinen Fähigkeiten dürfe nicht hinter einem Schreibtisch in Moskau versauern. Am letzten Tag des UdSSR-Besuchs von Saddam Hussein wurde Chasradschi zu einem Abendessen geladen. Man saß um einen großen Tisch. Während des Essens kam der irakische Botschafter in Moskau auf Chasradschi zu und flüsterte ihm ins Ohr: "Der Vizepräsident würde sie gerne sprechen." Es kam zu einer Szene, die Chasradschi nie vergessen sollte.
Hussein legte seine Hand auf Chasradschis Kopf und drückte ihn nach unten, so dass er einen Diener machen musste. Mit der anderen Hand hielt Hussein Chasradschis Arm fest und sagte: "Kamerad Nisar, wenn ich morgen ins Flugzeug steige, und ich dir sage, flieg' mit mir, würdest du das tun?" Chasradschi entgegnete: "Kamerad Vizepräsident, wir haben eine Abmachung: Ich würde es tun, wenn mein Onkel frei kommt." Damit hatte Hussein nicht gerechnet. Er ließ Chasradschis Arm schlagartig los, setzte sich aufrecht in seinen Sessel und sagte: "So soll es sein." Hussein hielt Wort. Der Onkel kam frei, Chasradschi selbst wurde nach Kirkuk in den Norden des Irak versetzt.
Lesen Sie im dritten Teil über das Verhältnis Chasradschis zu Saddam Hussein, und was er von der irakischen Opposition hält
Von da an kreuzten sich Chasradschis und Husseins Wege immer wieder. Im Sommer 1973 gab es Umsturzpläne gegen Präsident Hasan al-Bakr, doch der Putsch scheiterte. Als Chasradschi im Oktober 1973 aus dem südlichen Golan zurückkehrte, wo er gegen die Israelis gekämpft hatte, und es ablehnte, das Kommando über eine Spezialeinheit zu übernehmen, verdächtigte ihn al-Bakr, auf Seiten der Putschisten gestanden zu haben. Als ihn der Präsident hinrichten lassen will, setzt sich Hussein für ihn ein. Chasradschi wird nach Indien versetzt.
Paranoia und Größenwahn
Im September 1980 - Saddam Hussein war ein Jahr zuvor Präsident geworden - greift der Irak den Iran an, nachdem es zu Grenzkonflikten am Schatt el-Arab gekommen war. "Nach dem Ende dieses Krieges offenbarte Hussein seine hässliche Seite", sagt Chasradschi. Überall habe der Tyrann Konspiration gewittert, hochrangige Offiziere ließ er kurzerhand umbringen. Seine Paranoia ging einher mit Größenwahn. "Hussein sah sich als Retter aller Araber", sagt Chasradschi, er habe auf keinen Rat gehört, "daher führte er den Irak in seinem Wahnsinn gegen Kuweit".
Der Präsident bestellt am 2. August 1990, morgens um 8 Uhr, seinen Stabschef und den Verteidigungsminister zu sich in den Palast. "Wir haben Kuweit befreit", setzt er die höchsten Militärs in Kenntnis. "Das traf uns wie ein Schlag", sagt Chasradschi, "wir hatten keine Ahnung". Saddam, so Chasradschi, hatte die "Mutter aller Kriege" mit ihm direkt unterstellten Einheiten begonnen.
Innerhalb von zwei Wochen habe er zwei strategische Dossiers geschrieben und Hussein zukommen lassen, erzählt der ehemalige Kommandeur. Darin habe er vorgeschlagen, der Irak solle sich zurückziehen, andernfalls werde die Armee ein Desaster erleben. Wenige Tage später sei er gefeuert worden. Nur seine Popularität unter den Soldaten und in der Bevölkerung habe ihn vor der Exekution bewahrt.
Fünf Monate danach, als die USA und ihre Alliierten die irakische Armee aus Kuweit zurückgedrängt hatten, wurde Chasradschi reaktiviert und in ein Himmelfahrtskommando geschickt. Im Südirak sollte er eine mögliche US-Invasion abwehren. Doch anstatt eine Verteidigung aufzubauen, musste er sich mit Aufständischen herumschlagen. Teile seiner eigenen Truppe schlossen sich einer Rebellion der Schiiten an.
Die Hand in den Eingeweiden
Die Heldentaten von damals klingen seltsam fremd zwischen den nüchternen Wänden im dänischen Exil. Im Häuserkampf von Nasirijah, einem blutigen Gemetzel mit den Rebellen, wird Chasradschi schwer verwundet. Sein damals 25-jähriger Sohn Ahmed befindet sich in seiner Einheit. Der Vater befiehlt ihm, so erzählt Ahmed heute, ihn zu erschießen. Dem Feind in die Hände zu fallen, wäre eine Schande gewesen. Doch der Sohn weigert sich. Bevor sich der General selbst richten kann, fällt er in Ohnmacht.
Der Feind setzt das Gebäude in Brand. Um jedes Zimmer wird gekämpft. In Chasradschis Unterleib klafft eine große Wunde. Als Chasradschis Sohn Ahmed den Verletzten aufnimmt, fühlt er, wie seine Hand in die Eingeweide des Vaters gleitet. "Ich trug ihn, er hatte keinen Puls mehr, sein Gesicht war gelb. Ich dachte, er sei tot", sagt Ahmed. Nach etwa zehn Stunden Kampf sind sie am Ende. Die schiitischen Rebellen nehmen sie gefangen. Eine Woche später werden sie von Saddams republikanischen Garden befreit, Chasradschi überlebt.
Der Militär ist für das Regime fortan eine persona non grata. Sechs Jahre lebt er zurückgezogen in Bagdad, ständig in Furcht, ermordet zu werden. 1996 nimmt er eine Einladung von im Exil lebenden Dissidenten an, die mit der CIA in Verbindung stehen. Sechs Monate braucht er, um die Flucht zu planen. Sein Haus ist verwanzt. Irgendwann gibt er an, er müsse nach Mosul im Norden des Irak, weil ein Verwandter gestorben sei. Über mehrere Stationen in mehreren Autos gelingt es der Familie, sich durchs Kurdengebiet in die Türkei und dann bis in die jordanische Hauptstadt Amman durchzuschlagen.
Die CIA nimmt Kontakt mit Chasradschi auf. Lange gilt er den Amerikanern als Favorit für die Zeit nach Saddam Hussein. Doch Chasradschi weigert sich, nur Handlanger der Supermacht zu sein.
"Gott verdamme Völker, die sich nicht befreien können"
Rund 1500 ehemalige irakische Offiziere, so wird geschätzt, sollen im Exil leben, rund 70 Anwärter sich für den Posten des Oberhaupts einer Interimsregierung interessieren. Doch in den Dienst ausländischer oder im Exil operierender irakischer Oppositionsgruppen will sich Chasradschi nicht stellen. Vom neuen Favoriten der CIA und des amerikanischen Außenministeriums, General Najib al-Salhi, 50, hält er nichts: "No comment. Ein kleiner Brigadekommandeur."
Auch über Ahmed Chalabi, Oberhaupt des zivilen irakischen Nationalkongresses in London, verliert er kein gutes Wort: "Ein Zivilist, Bauherr in Jordanien, wo er bankrott ging." Chalabi habe gute Drähte zu einigen US-Senatoren und ins Pentagon. Chasradschi baut auf die eigene Stärke. "Wir wollen den Tyrannen loswerden, ohne dass das Land zerstört wird", opponiert er gegen irakische Oppositionelle, die sich mit Hilfe der Amerikaner an die Macht bringen lassen wollen.
Chasradschi setzt auf einen Militärputsch, obwohl schon so viele Umsturzversuche gescheitert sind. "Ich sehe mich als den mächtigsten Feind Saddams", sagt er, "denn ich repräsentiere die irakischen Streitkräfte, und die irakische Truppe ist die einzige Organisation, die Saddam wirklich stürzen könnte. Möge Gott die Völker verdammen, die sich nicht selbst befreien können".
Noch sitzt Chasradschi in Dänemark und hadert mit seinem Schicksal. Sollte er gar im Gefängnis landen, wüsste Saddam, so der Exil-Iraker, "dass er seinen wütendsten Feind los ist".