Irak Sarkawi gründet Terrordachverband
Berlin - "Die ganze Welt diskutiert über Abu Mussab al-Sarkawi, nicht zuletzt seine Verehrer und Unterstützer", heißt es in einem Internetposting, das kürzlich auf einer dem Terrornetzwerk al-Qaida nahestehenden Website erschien. "Keiner weiß: In welche Richtung will er gehen?"
Der Grund für das Rätselraten in der Sympathisantenszene ist das jüngste Manöver des gebürtigen Jordaniers, dessen Terrororganisation seit fast drei Jahren täglich grausame Anschläge im Irak verübt. Nachdem er sich im Oktober 2004 noch dafür feiern ließ, sich al-Qaida angeschlossen und Osama Bin Laden die Treue "in guten und in schlechten Tagen" geschworen zu haben, hat Sarkawi nun eine überraschende Volte geschlagen: Seit dem 19. Januar tritt er nicht mehr unter dem nach seinem Treueschwur etablierten Namen "al-Qaida im Zweistromland" auf.
Stattdessen hat er, gemeinsam mit fünf anderen militanten Gruppen, eine Art Terror-Allianz mit dem Namen "Ratgebergremium der Mudschahidin" gegründet. Anschläge der irakischen al-Qaida werden in den Bekennerschreiben seitdem nicht mehr getrennt von denen der anderen Gruppen aufgeführt. An die Stelle des alten Logos ist ein neues getreten: Mehrere Arme, die gemeinsam eine schwarze Fahne mit dem islamischen Glaubensbekenntnis in die Höhe halten.
Der Zusammenschluss, heißt es im Gründungsdokument des "Gremiums", habe zum Ziel, die Vertreibung der Ungläubigen aus dem Irak zu koordinieren, die Reihen der Glaubenskrieger fest zu schließen, die "Leidenschaft durch Verzicht auf Differenzen zu bewahren", ein "klares islamisches Programm" vorzulegen und neue Rekruten zu gewinnen. In einer nachgeschobenen Tonbanderklärung der "Führung" erklärt ein nicht namentlich identifizierter Sprecher (es ist nicht Sarkawi), dass man hoffe, "alle anderen Gruppen auf dem Schlachtfeld" mögen sich anschließen.
Kooperation und Abgrenzung
"Sarkawis Verhältnis zu al-Qaida war immer sowohl von Kooperation als auch von Abgrenzung bestimmt. Zurzeit möchte der Jordanier wieder seine Unabhängigkeit betonen", vermutet der Terrorexperte Guido Steinberg hinter der neuesten Häutung des unter seinen Sympathisanten als "Scheich der Schlächter" und "Löwe Mesopotamiens" bekannten Mannes. In der Tat: Schon in den Neunzigern, als Sarkawi zeitweise ein kleines Militärcamp im afghanischen Herat betrieb, stand er zwar mit Bin Laden & Co. in Verbindung, drückte sich jedoch den meisten Darstellungen zufolge erfolgreich vor einer formalen Unterstellung unter al-Qaida. Besonders in zwei ideologischen und strategischen Punkten ist er von jeher anderer Meinung als Bin Laden: Zum einen ist Sarkawi der Ansicht, dass schiitische Muslime aktiv bekämpft werden müssen. Zum anderen liegt sein regionaler Schwerpunkt in der Region Irak/Jordanien/Syrien/Palästina. Sarkawis Fernziel ist es, die jordanische Monarchie zu stürzen und Israel direkt anzugreifen.
Allerdings entscheidet auch Sarkawis jeweilige Situation im Irak über die Art und Weise, wie er sein Verhältnis zu Bin Laden und dessen Stellvertreter, dem Ägypter Aiman al-Sawahiri, gestaltet. Als er sich im Herbst 2004 dem Terrornetzwerk anschloss, gab er seinen durch grauenhafte Mordvideos und Anschläge etablierten Organisationsnamen "al-Tawhid wa al-Dschihad" auf. Experten vermuteten seinerzeit als Motiv für diesen weitreichenden Schritt, dass Sarkawi hoffte, durch das Label "al-Qaida" mehr Rekruten und Spender in den Golfstaaten finden zu können. Osama Bin Laden begrüßte kurz nach dem Anschluss Sarkawis dessen Schritt ausdrücklich.
Seitdem schien der Jordanier der offizielle Statthalter al-Qaidas im Irak zu sein - ein Posten, der ihn in den Mittelpunkt des internationalen Dschihadismus rückte und seine über den Irak hinausreichenden Ambitionen zum Ausdruck brachte. Warum er den Namen jetzt wieder aufgab, lässt sich wohl nur mit einer Mischung von Gründen erklären.
Reaktion auf Kritik von Islamgelehrten?
"Offensichtlich reagiert Abu Mussab al-Sarkawi mit der Namensänderung - wenn sie denn schon endgültig sein sollte - auf scharfe Kritik, die Sawahiri im Oktober 2005 an der brutalen Vorgehensweise Sarkawis übte", glaubt etwa Experte Steinberg. Sawahiri hatte in einem von der US-Armee abgefangenen Schreiben geklagt, dass Sarkawi drauf und dran sei, die unverzichtbare Unterstützung der irakischen Bevölkerung zu verlieren, wenn er weiter gegen Zivilisten vorgehe. Der Ägypter lag in seiner Einschätzung zweifellos richtig: Ein von Sarkawi organisierter Anschlag in Jordanien im November 2005, bei dem fast 60 Menschen getötet wurden, kostete ihn viel Sympathie in seinem Heimatland. Im Irak wandten sich in den vergangenen Wochen mehrere wichtige Stämme gegen die Qaida-Terroristen.
Der israelische Terrorexperte Reuven Paz vermutet ähnliche Gründe hinter der Umbenennung, verweist aber zusätzlich noch auf die harsche Kritik einer Reihe islamischer Rechtsgelehrter an Sarkawis brutaler Signatur. "Er versucht jetzt, die Unterstützung irakischer Rechtsgelehrter zu erlangen", glaubt Paz. Denn seinen alten theologischen Mentoren Maqdisi und Abu Qutada könne er nicht mehr trauen. Sie seien nicht mehr bereit, den Kurs des Schlächters zu rechtfertigen.
Sarkawis jetzt vollzogene zweite Umetikettierung könnte der Versuch sein, mehreren dieser Probleme auf einen Schlag zu begegnen. Denn mit der Gründung des "Gremiums" und der damit ausgebauten Kooperation mit irakischen Terrororganisationen tritt Sarkawi dem Eindruck entgegen, er sei ein Ausländer, dem es gar nicht um den Irak gehe. "Sarkawi will nicht mehr wie ein Fremder wirken", vermuten auch deutsche Sicherheitsbehörden. Dass er dadurch zugleich Bin Laden und Sawahiri düpiert, dürfte Sarkawi angesichts des Briefs des Ägypters nicht ungelegen kommen.
"Wo sind die Analysten?"
Welche Konsequenzen die Schaffung des "Gremiums" im Irak haben wird, ist noch nicht abzuschätzen. Die Anzahl der Anschläge ist aber weder erkennbar gesunken noch gestiegen. Nur ist jetzt eben unklar, welche der sechs Gruppen welchen von ihnen ausgeführt hat. Auf diese Weise wird es für Beobachter des Terrors schwieriger, die Schlagkraft von Sarkawis Netzwerk einzuschätzen. Allerdings ist der Verzerrungseffekt nicht besonders groß: Vier der beteiligten Gruppen sind nahezu unbekannt, und die fünfte, "al-Ta'ifa al-mansura", scheint schon länger komplett von Sarkawi abhängig zu sein und vor allem gezielte Attentate in dessen Auftrag auszuführen.
Interessant ist dagegen, dass eine Gruppe, der zu Beginn des Aufstandes eine enge Zusammenarbeit mit Sarkawi nachgesagt wurde, nicht an der Allianz beteiligt ist: Die "Ansar al-Sunna", eine kurdisch-islamistische Gruppe, deren Vorgängerorganisation Sarkawi bei dessen Etablierung im Zweistromland vor Beginn des Irakkrieges behilflich war, agiert auch weiterhin unabhängig - unter eigenem Logo und mit eigenen Bekennerschreiben.
Ob die Gründung der Terroristen-Dachorganisation ein Zeichen von gestiegener Stärke oder Schwäche Sarkawis ist, kann nicht mit Gewissheit gesagt werden. Deutsche Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass "al-Qaida im Zweistromland" nach wie vor existiert, nur eben mit geringerer Sichtbarkeit.
Die Sympathisanten Sarkawis sind offensichtlich ebenfalls noch nicht sicher, welche Folgerungen sie aus dem Bäumchen-wechsel-dich-Spiel ziehen sollen. "Hat Osama Bin Laden ihn vielleicht für die Explosionen von Amman bestraft?", wird in dem eingangs schon zitierten Posting sogar die Möglichkeit angedeutet, dass der Qaida-Chef Sarkawi die Berechtigung zur Führung des Labels entzogen haben könnte - gefolgt von der bangen Frage: "Wo sind die Analysten?"