Iran-Dossier Spähattacke auf das härteste Ziel der Welt
Berlin - In John Le Carrés berühmten Spionagethriller "Das Russlandhaus" nimmt ein russischer Raketenphysiker Kontakt zum britischen Geheimdienst auf. Seine Botschaft: Die sowjetischen Flugkörper taugen nichts und treffen kein Ziel. Der Westen kann aufatmen, das Wettrüsten ist obsolet. Doch in London sorgt der Erhalt des geheimen Dossiers nicht etwa für Entspannung, sondern für Streit: Kann man den Informationen trauen? Oder handelt es sich um gezielte Desinformation?
So ähnlich wie ihren fiktiven Kollegen muss es in diesem Sommer den realen Geheimdienstlern in Washington ergangen sein. Eine "großartige Entdeckung", so US-Präsident George W. Bush gestern, habe den Diensten neue Einblicke in den Stand der iranischen Atomprojekte gegeben.
Was genau Bush mit der "großartigen Entdeckung" meinte, ist auch zwei Tage nach Veröffentlichung der Ergebnisse des "National Intelligence Estimate" (NIE) unklar. Aber wahrscheinlich bezog sich der Präsident auf ein belauschtes Gespräch mehrerer iranischer Atomwissenschaftler, in dem Klage geführt wurde, dass das militärische Nuklearprogramm eingefroren wurde.
Mehrere Wochen lang, so berichten einschlägige US-Zeitungen, hätten die Geheimdienste herauszufinden versucht, ob das Gespräch im Iran nur geführt worden war, um sie in die Irre zu führen. Am Ende seien sich die 16 am NIE beteiligten Behörden aber einig gewesen: Das war kein Bluff des Mullah-Regimes, das war authentisch.
"Das verdammt noch mal härteste Ziel"
Der aufgefangene Gesprächsschnipsel war offenkundig ein zentrales Indiz für die im NIE jetzt erstmals und "mit hoher Gewissheit" vertretene These, dass Iran seit Herbst 2003 kein geheimes militärisches Nuklearprogramm mehr betreibt. Allerdings keinesfalls das einzige: "Man kann eine solche dramatische Neueinschätzung nicht machen, ohne etwas Unwiderlegbares in der Hand zu haben. Auf keinen Fall kann es sich um eine einzige menschliche Quelle oder ein einziges aufgefangenes Gespräch gehandelt haben", zitiert der Nachrichtenkanal MSNBC einen ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter.
Was für Quellen und was für Indizien könnten die Geheimdienstler also noch in die neue Richtung gelenkt haben? Zumal Iran, wie es ein ungenannter Geheimdienstler der "Washington Post" sagte, "das verdammt noch mal härteste Ziel da draußen ist, schwieriger als Nordkorea".
Nur Puzzlestücke sind bis jetzt öffentlich geworden, bestätigt wurden sie in den seltensten Fällen und manchmal stehen sie auch in Widerspruch zueinander. Aber aus der Lektüre der wichtigsten US-amerikanischen und britischen Zeitungen ergibt sich derzeit folgender Erkenntnisstand:
- Notizen aus dem bereits erwähnten Gespräch der iranischen Experten erhielten die US-Dienste anscheinend letzten Sommer ("New York Times"). Dass die US-Dienste nur "Notizen" hatten, könnte zu einer Version passen, die der britische "Guardian" heute verbreitet: Dem Blatt zufolge fing nämlich der britische Geheimdienst das Gespräch ab.
- Die "Los Angeles Times" berichtet zusätzlich von einem "Tagebuch einer iranischen Quelle", das den Stopp des militärischen Atomprogramms bestätigen soll. Aber die "New York Times" zitiert einen Geheimdienstler mit der Aussage, dabei habe es sich eher um "einen Austausch innerhalb einer größeren Gruppe gehandelt" - sodass man davon ausgehen kann, dass es sich bei der "LA-Times"-Information ebenfalls um das bereits erwähnte Gespräch handelte.
- Darüber hinaus schreibt der "Guardian", dass "so gut wie sicher" auch Aussagen eines iranischen Überläufers in das NIE eingeflossen seien. In der Tat wird diese Vermutung vielfach geäußert, auch mit Blick auf den vor einigen Monaten verschwundenen Reza Asgari, ein hohes Mitglied der "Revolutionären Garden". MSNBC berichtet allerdings, dass Geheimdienstkreise dies dementieren.
- Mit ziemlicher Sicherheit flossen Analysen von Filmschnipseln und Fotos aus iranischen Nuklearanlagen in die Neubewertung ein - und zwar von einem Besuch der iranischen Nomenklatur in der Anlage von Natans in Pressebegleitung 2005 ("USA Today"). Die Bilder waren öffentlich zugänglich, für die Experten der US-Dienste aber dennoch wertvoll. Denn sie sollen gezeigt haben, dass Irans Anlagen zur Urananreicherung nicht reibungslos funktionieren ("USA Today") beziehungsweise nur zivil nutzbares, aber nicht militärisch verwendbares Brennmaterial herstellen könnten ("Washington Post").
- Eine besondere Bedeutung kommt zudem möglicherweise einem "gestohlenen Laptop" zu, der der CIA 2004 in die Hände fiel ("New York Times"). Unter den Bezeichnungen "L-101" und "L-102" seien Überlegungen angestellt worden, wie man Nuklearsprengköpfe an iranischen Raketen anbringen könnte. Den US-Diensten gilt diese Information als zentraler Beleg für die Existenz eines geheimen militärischen Atomprogramms vor Herbst 2003. Lionel Beehner und Greg Bruno vom "Council on Foreign Relations" (CFR) weisen allerdings daraufhin, dass die Daten auf dem Laptop, der damals von einem Auslands-Iraner außer Landes geschafft worden sei, gemeinhin als gefälscht betrachtet würden. Unter anderem sei auffällig, dass der Inhalt auf Englisch und nicht auf Farsi abgefasst sei.
- Auch in europäischen Sicherheitskreisen ist man der Ansicht, dass die Daten aus dem Laptop und der Inhalt des abgefangenen Gesprächs nicht als "smoking gun" zu werten sind. Sie stellten keinen Beweis für ein militärisches Programm dar, hieß es. In Europa seien die Dienste der Ansicht, dass Iran sich stets die Option auf ein militärisches Atomprogramm erhalten habe, darauf wiesen nicht zuletzt iranische Versuche hin, entsprechende Technologie zu erwerben.
- MSNBC zählt noch eine weitere Informationsquelle auf: "Freundliche und nicht ganz so freundliche Geheimdienste" anderer Länder. Aber auch hierfür gab es keine Bestätigung.
- Schließlich sollen auch "technische Informationen der IAEO", also der Internationalen Atomenergiebehörde der Uno, von den US-Diensten genutzt worden sein, berichtet die BBC. Zeitweise erlaubte Iran den Inspektoren der IAEA den Zugang zu seinen bekannten Nuklearanlagen.
- Eigene Agenten haben die USA laut dem CFR übrigens kaum in Iran. Aber sie überwachten die ihnen bekannten Anlagen mit unbemannten Spionageflugzeugen und schöpften iranische Wissenschaftler ab, wenn sich eine Gelegenheit bietet. In Dubai gibt es zudem einen diplomatischen Posten, dessen einzige Aufgabe in der Iran-Beobachtung liegt.
Nicht nur neue Quellen, auch neue Methoden sind wichtig
Es dürfte unmöglich sein, herauszufinden, wessen Informationen auf welche Weise auf das NIE einwirkten. "Tausende" Informationen und Daten seien ausgewertet worden, zitierten die US-Zeitungen heute aus Geheimdienstquellen. Über 1000 Fußnoten enthält der (geheime) Vollbericht - auf 150 Seiten.
Doch es ist wohl nicht nur die Güte einiger Top-Quellen, die das NIE so eindrucksvoll in eine neue Richtung drängte - auch die Methodik der Auswertung dürfte eine herausragende Rolle gespielt haben.
Dafür wiederum ist zuvorderst Mike McConell verantwortlich, der neue Geheimdienstkoordinator. Er soll die Spionageagenturen ermutigt haben, auch zu überlegen, was sie nicht wissen - und scheinbar unwichtigen Details neue Aufmerksamkeit zu schenken. Auch sollten die Schlapphüte Teherans mögliche Kalkulationen mit einbeziehen. Diese neuen Methoden sind nicht zuletzt ein Echo auf das Versagen der US-Geheimdienste im Vorlauf des Irak-Kriegs, als sie nicht-existente Massenvernichtungswaffen beschrieben hatten.
Harsche Kritik von John Bolton
Auch Präsident George W. Bush selbst hatte offenbar Anteil an der Neuausrichtung - bei der Präsentation des letzten NIE zu Irans 2005 beklagte er sich nämlich über zu wenig hartes Wissen zum Atomprogramm Teherans, woraufhin eine neue Iran-Abteilung gegründet wurde. Mittlerweile dürften dort nach Einschätzung des CFR mindestens 175 Beamte allein der CIA Dienst tun.
McConells Methoden stoßen inzwischen auch auf harsche Kritik. John R. Bolton, Washingtons früherer Uno-Botschafter und ein Hardliner, wirft den Verfassern des NIE vor, in der Mehrzahl "Flüchtlinge aus dem Außenministerium" zu sein - in Geheimdienstarbeit unerfahrene Beamte, die McConell mit ins Amt gebracht habe. Sie hätten traditionell eine Iran-freundlichere Haltung.
Bolton wirft den Verfassern auch mangelnde Logik vor: Sie stellten zum Beispiel fest, dass Iran sein militärisches Atomprogramm auf internationalen Druck hin eingestellt habe - die USA hätten 2003 jedoch überhaupt keinen nennenswerten Druck auf Teheran ausgeübt.
Schließlich kritisiert Bolton das NIE in seinem Kommentar in der "Washington Post" dafür, dass "die aktuellsten Quellen überbewertet" seien. In den letzten Jahren hätten die USA wegen steigender Achtsamkeit Teherans viele Quellen in Iran verloren - da sei "bei plötzlichem Auftauchen neuer Quellen" Misstrauen angebracht.
So ähnlich argumentieren die britischen und US-amerikanischen Geheimdienst-Barone in Le Carrés "Russlandhaus" übrigens auch. Dort stellt sich am Ende freilich heraus, dass die Quelle authentisch ist. Nutzen tut das allerdings nichts - weil inkompetente Geheimdienstler und Politiker lieber weiter Kalter Krieg spielen wollen.