Irans Oppositionelle "Ich habe das Leben meiner Familie aufs Spiel gesetzt"
Nagin ist auf der Flucht. Seit fünf Wochen lebt Nagin* in einem Hotel in Istanbul - 2000 Kilometer weit entfernt von ihrer Heimat Teheran, getrennt von ihrem Mann und ihren zwei Kindern. Sie stieg in einen Flieger, weil es Hinweise gab, dass man sie ins Gefängnis werfen würde. Weil der Geheimdienst begonnen hatte, sie zu observieren. "Ich bin keine geborene Revolutionärin", sagt sie und steckt sich eine Zigarette an. "Ich hoffe nur, dass mir Gott verzeiht, dass ich das Leben meiner Familie aufs Spiel gesetzt habe."

Proteste in Iran (im Juni): "Man behandelt uns wie Schmutz"
Foto: APNagin ist 36, eine kleine, hübsche Frau. Sie hat dunkle traurige Augen, sie trägt ein Tattoo auf dem linken Oberarm, ein durchstochenes Herz. Sie raucht viel. Das Rauchen, so wird sie später erzählen, habe ihr während einer Tränengas-Attacke das Leben gerettet. Ihr Name, erzählt sie, bedeutet Diamant. "Doch in meiner Heimat behandelt man Frauen wie mich nicht wie Diamanten. Man behandelt uns wie Schmutz."
Dem Regime war die Sozialwissenschaftlerin Nagin, die nach einer Indien-Reise Yoga-Lehrerin wurde, schon seit längerem ein Dorn im Auge. Yoga, das ist für die Mullahs pure Blasphemie, ein Götzendienst. In ihrer Nachbarschaft, einem belebten Viertel in West-Teheran, tarnte sie die Kurse deswegen als Aerobic-Unterricht.
Vor einigen Monaten ließ sich Nagin von Freunden überreden Wahlkampf zu machen. Der Kandidat Mir Hossein Mussawi begeisterte sie. "Kein Messias" findet sie, aber ein gebildeter Mann. "Einer, der Ahmadinedschad besiegen konnte. Einer, für den wir uns nicht mehr schämen müssen."
"Das Regime hat mit unseren Hoffnungen gespielt"
Nagin beginnt Plakate für den Kandidaten zu kleben, sie streift sich eine grüne Armbinde um und erscheint auf Wahlkundgebungen. Sie beginnt von einem anderen, einem freieren Land zu träumen. Eines Tages erhält sie eine SMS: "Möge Gott verhindern, dass du unserem Land weiter Schaden zufügst." Ein Mussawi-Mitarbeiter mit angeblichen Verbindungen zum Geheimdienst will der Sache nachgehen, sie solle sich keine Sorgen machen. Nagin wird nie wieder von ihm hören.
Den Wahlabend am Freitag, den 12. Juni, verfolgt sie mit Freunden, Zigaretten und Kaffee vor dem Fernseher. Um 2 Uhr nachts wird Ahmadinedschad zum Sieger ausgerufen, er soll 63 Prozent der Stimmen erhalten haben. Für Nagin bricht eine Welt zusammen. "Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so zornig und so traurig war", sagt sie. "Mir wurde klar, dass uns das Regime betrogen hat. Dass es mit unseren Hoffnungen gespielt hat."
Es ist ungewöhnlich still in Teheran, am Morgen danach. Nagin ist deprimiert, sie sucht ihren Psychoanalytiker auf. Er rät ihr, auf den Friedhof zu gehen und laut vor den Gräbern ihrer Ahnen zu weinen. Sie tut es, aber es hilft nicht. Sie setzt sich in ihren Wagen und fährt in den Norden der Stadt; einfach nur shoppen, sich ablenken. Am Kaj-Platz im Stadtteil Saadat Abad hält sie an. Sie sieht Menschen, Zehntausende; junge Leute mit Trillerpfeifen und Plakaten, hupende Autofahrer. Sie rufen Slogans, tanzen auf der Straße. Nagin schließt sich ihnen an, hupt mit, schreit mit. Sie sagt, das sei "die beste Psychoanalyse, die ich je hatte".
Gegen 22 Uhr lichtet sich der Platz. Nagin parkt ihren Wagen und setzt sich auf eine Treppe. Sie ist müde. Die Demonstranten, die geblieben sind, unterhalten sich. Es sind ältere Menschen darunter, Familien, Kinder. Plötzlich ein Schrei. Von wo? Von wem?
Nagin erinnert sich nicht mehr, aus welcher Richtung die Motorräder und die Männer mit den schwarzen Hemden herbeigerast kommen. Sie weiß nur: Es sind Bassidsch-Milizen, Schergen des Regimes, sie knüppeln wahllos in die Menge. "Wie in einem Nazifilm" sei das gewesen, sagt Nagin. Direkt vor ihren Augen geht eine Frau zu Boden. Neben ihr brüllt ein Zwölfjähriger um Hilfe. Dann fühlt Nagin selber einen Schlag in ihrem Rücken. Sie rappelt sich auf, rennt mit dem Zwölfjährigen und zwei weiteren Jugendlichen auf die andere Straßenseite.
Auf der Flucht vor den Bassidsch gelangt die kleine Gruppe in einen Hinterhof. Ein älterer Mann in Bermuda-Shorts öffnet ihnen. "Seid still", flüstert er und macht das Licht aus. Doch einer der Schwarzhemden hat die Gruppe verfolgt. Er schießt eine Tränengassalve durch das Fenster. "Der alte Mann erklärte uns, dass gegen Tränengas kein Wasser hilft, nur Zigarettenrauch", erzählt Nagin. "Also stopfte sich jeder, der Zigaretten dabei hatte, so viele wie möglich in den Mund, zündete sie an und blies dem Gegenüber Rauch ins Gesicht. Es funktionierte!"
"Mama, da ist eine Frau am Telefon, die ist sehr wütend auf dich"
Als Nagin Stunden später ihre Kinder in die Arme nimmt, hat sie Blutergüsse am ganzen Körper. Sie hustet, sie muss sich übergeben, ihre Augen tränen. Ihr Mann ist erschüttert. Er will, dass Nagin das Haus nicht mehr verlässt. "Das konnte ich ihm nicht versprechen", sagt sie. "Nicht nach allem, was passiert ist. Aber letzten Endes beneidete mich mein Mann, er hätte mich gerne begleitet, aber er durfte nicht. Er arbeitet für den Staat, er hätte sofort seinen Job verloren, wenn man ihn verhaftet hätte."
In den Folgetagen stimmt sich Nagin mit ihren Freunden ab - über die Web-Seiten der Mussawi-Bewegung wissen sie stets, wo sie sich treffen müssen. Doch sie macht einen Fehler. Auf einem Online-Formular hinterlässt sie ihren Namen und ihre Adresse; dass die Seite von Ahmadinedschad-Anhängern gehackt wurde, erfährt sie zu spät. Als das Telefon klingelt, nimmt Nagins Sohn ab. "Mama, da ist eine Frau am Telefon, die ist sehr wütend auf dich. Sie will, dass du zur Polizei gehst."
Nagin hält den Anruf für eine Farce. Sie weigert sich, zur Polizei zu gehen, statt dessen demonstriert sie, ein letztes Mal. Es ist Samstag, der 20. Juni: Ajatollah Chamenei, der oberste religiöse Führer, hat sich am Vortag, nach der Freitagspredigt, offen auf die Seite Ahmadinedschads gestellt. Die Wahl sei entschieden, wer jetzt noch demonstriere, müsse die Konsequenzen selber tragen.
Der "blutige Samstag" wird auch für Nagin zum Verhängnis. An jenem Abend wird sie dabei gefilmt, wie sie sich wehrt; wie sie und zwei andere es schaffen, einem Bassidsch-Mann den Schlagstock abzunehmen und zurück zu prügeln. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich dazu fähig war, aber es war die größte Befreiung meines Lebens."
Nagins Mann rät ihr zur Flucht ins Ausland
Sie hält nicht lange an. Nagin gerät erneut in eine Tränengaswolke, dieses Mal ist es noch schlimmer. "Ich konnte nicht mehr atmen, ich wollte nur noch sterben. Meine Freunde haben mich angeraucht, aber es half nicht." Ein Freund rät ihr ab, ins Krankenhaus zu gehen: Das Personal dort sei angeblich angewiesen worden, verletzte Demonstranten sofort der Polizei zu übergeben. Aber der Schmerz ist zu stark, Nagin hat keine Wahl. Obendrein hat sie seltsame Schwellungen an den Armen, ihre Haut beginnt sich zu schälen. Sie lässt sich abtransportieren.
Im Krankenhaus erfährt sie, dass ihre Lungen nicht mehr ganz funktionstüchtig seien. Der Arzt verschreibt ihr ein Spray und Kortison gegen die Hautirritationen. Woher die Flecken kommen könnten, will keiner sagen. Im Wartesaal steht Nagins Mann. "Er sagte mir, dass unser Haus überwacht wird. Er sagte auch, dass es jetzt wohl das Beste für die Familie sei, wenn ich das Land für eine Weile verlassen würde." Ein Flug sei schon gebucht. Nur ein Hinflug. In die Türkei.
Nagin wollte eigentlich nicht nach Istanbul. Sie sagt, sie wäre lieber nach Dubai geflohen. Doch das dortige Visum hätte nur 15 Tage gereicht, in der Türkei gibt es hingegen gar keine Visumspflicht für Iraner. Hier kann sie auf unbestimmte Zeit bleiben.
Welche Perspektive hat sie? Ein Monat ist nun vergangen. Das Geld reicht, aber Nagin hat keine Freunde in Istanbul. Sie spricht kein Türkisch und ihr Englisch reicht nicht aus, um Barrieren zu überwinden. Sie sagt, es gebe viele Iraner in der Türkei. Doch sie weiß nicht, wem sie vertrauen soll. "Der Geheimdienst hat seine Leute hier, jeder weiß das."
Und die Kinder? Ein Schmerz, mit dem sie ins Bett geht und mit dem sie jeden Morgen aufwacht. "Niemand kann das nachvollziehen, der nicht selber Mutter ist. Ich mache mir Vorwürfe. Ich weiß, ich hätte es nie soweit kommen lassen sollen."
Aus ihrem Istanbuler Hotel telefoniert sie, so oft es geht, in die Heimat. Doch über Politik darf nicht gesprochen werden. Einmal fragte Nagin ihren Mann, ob noch protestiert werde. "Den Kindern geht es gut, danke", antwortete er.
* Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt.