Irans Symbolfigur Mussawi Held wider Willen
Teheran - Es gibt keine Spur von Hossein Mussawi, seit Tagen nicht. Die vom iranischen Wächterrat einberufene Sitzung am Samstag, bei der der vor zehn Tagen unterlegene Präsidentschaftskandidat seinen Vorwurf des Wahlbetrugs erläutern sollte: Er blieb ihr fern. Die Erklärungen, die er am Samstag in Teheran abgegeben haben soll: Sie wurden über seine Website und nicht näher benannte Vertraute verbreitet. Westliche Journalisten hören von Familienangehörigen Mussawis, er und seine ebenfalls politisch engagierte Frau Sahra Rahnaward würden von der Staatsmacht massiv persönlich unter Druck gesetzt.
Das Schicksal Mussawis steht auf dem Spiel, es ist untrennbar mit dem Erfolg oder der Niederlage der Aufstände in Iran verbunden. Die Straße übt den Druck aus, der den Reformern im Machtkampf innerhalb des anscheinend tief gespaltenen Establishments dazu verhelfen könnte, sich durchzusetzen. Sollten sie unterliegen, dürfte ihr politisches Leben beendet sein.
Er wollte das System zurechtrücken - um es zu stabilisieren
Es ist keine zwei Wochen her, da war Mussawi - ehemaliger iranischer Ministerpräsident, Architekt und Künstler - ein wohlangesehenes Mitglied der iranischen Führungsriege. Ein Veteran der islamischen Revolution, ein Vertrauter des über seinen Tod hinaus verehrten Revolutionsführers Ajatollah Ruhollah Chomeini: Während Hunderte andere Aspiranten nicht zur zehnten Präsidentschaftswahl der Islamischen Republik zugelassen wurden, segnete der Wächterrat Mussawis Kandidatur ab. Als konservativer Reformer ging er ins Rennen, als einer, der das System von innen zurechtrücken wollte, um es zu stabilisieren.
In den zehn Tagen seit der Wahl ist Mussawi nun ein anderer geworden, unfreiwillig. Der von ihm angeschobene Protest wegen mutmaßlichen Wahlbetrugs hat sich verselbstständigt - und mit ihm die Rolle, die Mussawi von den Menschen zugedacht wird. Als "Gandhi Irans" sehen ihn die Gemäßigten, die Radikalen unter den Demonstranten wollen, dass er den Revoluzzer gibt. Längst richtet sich der Protest nicht mehr nur gegen den Wahlbetrug, viele fordern das Ende des Systems, das in den vergangenen Tagen in seinen Grundfesten erschüttert wurde.
Anführer des Umsturzes soll dabei ausgerechnet der linientreue Mussawi sein. Als der bei der ersten Großdemo am Montag seinen Anhängern zurief, es ginge nicht um seine Person, mag er das ehrlich gemeint haben. Doch auch der Umkehrschluss stimmt: Ohne seine Person geht es nicht. Die Bewegung braucht eine Spitze.
Dass ihm die Rolle des Aufrührers unangenehm, wenn nicht unheimlich sein dürfte, lässt sich aus Mussawis Erklärungen vom Samstag ablesen: "Wir sind nicht gegen das islamische System und seine Gesetze, sondern gegen Lügen und Verirrungen", lautete eine Erklärung, die am Abend auf der Website Mussawis veröffentlicht wurde. Die Menschen würden von ihren Führern Ehrlichkeit und Anständigkeit erwarten. Viele Probleme hätten ihren Ursprung in Lügen. "Die islamische Revolution sollte wieder so sein, wie sie war, wie sie sein soll", forderte Mussawi die Regierenden zur Kurskorrektur auf.
"Er ist bereit zum Märtyrertum"
Dass Mussawi inmitten des Aufruhrs die Legitimität des Systems bekräftigt, dürfte der Versuch sein, sich seines Lebens zu versichern. Dass es in Gefahr sein könnte, scheint der 67-Jährige verstanden zu haben. Mussawi wisse, dass es keinen Weg zurück gebe, spielte ein Vertrauter des Kandidaten gestern angebliche Aussagen Mussawis der westlichen Presse zu. "Er ist bereit zum Märtyrertum."
Mussawi wurde 1941 in Chamene in der Provinz Ost-Aserbaidschan geboren. Während des Studiums der Architektur in Teheran schloss sich der tief Gläubige fundamentalistischen Gruppen an, die gegen das Schah-Regime kämpften. 1973 wurde er von der Geheimpolizei verhaftet, nach seiner Freilassung ein Jahr später wurde er Mitglied der illegalen, militanten "Iranischen Muslimbewegung", die bei der Revolution 1978/79 eine Rolle spielte.
Ab 1979 machte Mussawi in der frisch gegründeten Islamischen Republik rasant Karriere. Mit nur 39 Jahren wurde er zum Außenminister ernannt, drei Monate später zum Ministerpräsident gekürt. Während des Iran-Irak-Kriegs in den achtziger Jahren verordnete er Iran ein Wirtschaftsprogramm, mit dem das Land die schweren Jahre relativ unbeschadet überstand.
"Wir wollen keine Revolution"
Kritiker aus dem Lager der Reformer werfen Mussawi vor, sich als Ministerpräsident nicht gegen die Hinrichtungswellen gestemmt zu haben, denen in den Kriegsjahren Tausende zum Opfer fielen. Auch habe er die Enteignung von Besitz iranischer Exilanten betrieben. Mussawi hat sich früh für ein iranisches Atom-Programm eingesetzt. In den achtziger Jahren soll er den Kauf von Irans ersten Zentrifugen auf dem Nuklear-Schwarzmarkt genehmigt haben. Seine älteste Tochter ist Atom-Physikerin.
Chronik
Mussawi schied 1989 aus dem Amt, nachdem sein heutiger Förderer Ali Akbar Haschemi Rafsandschani zum Präsidenten gewählt worden war: Im Zuge einer Verfassungsreform war das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft worden. Mussawi fungierte fortan als Berater des Präsidenten und gehörte dem Schlichtungsrat an. Doch die Politik stand in den vergangenen 20 Jahren für ihn eher im Hintergrund. Mussawi machte sich einen Namen als Architekt und abstrakter Maler - und änderte seine einstmals radikalen Ansichten.
"Er hat gesehen, wie Ahmadinedschad das Bild Irans in der Welt besudelt hat", hatte Mohammed Atrianfar, ein enger Vertrauter Mussawis noch vor der Wahl SPIEGEL ONLINE gesagt. "Er ist um Iran besorgt, deshalb stellt er sich zur Wahl." Vor allem die Beziehungen zum Westen wolle Mussawi verbessern, so Antrianfar, der bei dem Interview am Tag vor der Wahl auch deutlich machte, was Mussawi nicht wolle. "Wir wollen keine Revolution, keinen Putsch gegen das System. Wenn etwas aus den Menschen herausbrechen sollte, dann deshalb, weil es sich lange aufgestaut hat."
Keine 48 Stunden nach dem Gespräch wurde Ahmadinedschad zum Sieger der Wahl ausgerufen. Hunderttausende gingen in der Folge auf die Straße. Und Mussawi? Mussawi wurde zum Held einer Revolution, die er eigentlich gar nicht wollte.