

Die Großoffensive begann gegen drei Uhr in der Nacht auf Montag: Hunderte, womöglich Tausende Kämpfer der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) rückten im Schutz der Dunkelheit auf mehrere Orte im Sindschar-Gebirge vor, das sie seit etwa zwei Wochen umzingeln. Ihr Ziel: die Region einzunehmen und die Jesiden, eine religiöse Minderheit, zu überwältigen.
Nach Angaben einer jesidischen Bürgerwehr, die seit Anfang August in dem Gebirge ausharrt und von dem Deutschen Qasim Shesho angeführt wird, halten sich in der Region etwa 10.000 Menschen auf. Darunter etwa 3000 Mitglieder der Bürgerwehr sowie 7000 Zivilisten.
Shesho lebt sonst im nordrhein-westfälischen Bad Oeynhausen und war im Sommer zu Verwandten nach Sindschar gereist, als die Angriffe auf die Region begannen. Der 62-Jährige steht seitdem der Bürgerwehr vor. Er ist entschlossen, zu bleiben und zu kämpfen.
Die Gruppe harrt seit Monaten in dem kargen Gebiet aus, weil sich dort zahlreiche Heiligtümer der Jesiden befinden. Eine der wichtigsten Pilgerstätten, Sherfedin, steht in einem Tal des Sindschar-Gebirges. In mehreren Orten wurden schon Sakralbauten zerstört. Die Bürgerwehr versucht, sie zu schützen.
Doch inzwischen geht es nicht mehr um religiöse Stätten, sondern um das blanke Überleben. Viele ausharrende Jesiden verabschieden sich bereits per SMS von ihren Angehörigen. "Sagt den Kindern, dass ich sie liebe", schreibt einer. "Wir haben bald keine Munition mehr. Es geht zu Ende", teilt ein anderer mit. Hilfsgüter wie Lebensmittel, Kleidung und Decken, aber auch Munition waren in den vergangenen zwei Wochen nur noch per Hubschrauber von der irakischen Armee abgeworfen worden, weil IS-Kämpfer den Landweg versperren.
Beobachter aus der Region bestätigen per Telefon, dass die Angriffe heftiger würden. "Es kann jederzeit vorbei sein", sagt ein Sohn von Qasim Shesho, der von Deutschland aus mit seinem Vater, seinen zwei Brüdern und einem Cousin im Sindschar-Gebirge in Verbindung steht. "Wir sind verzweifelt. Nur Luftschläge der Anti-IS-Koalition können uns noch retten. Andernfalls werden alle Jesiden dort massakriert."
Zivilisten versuchen, über Schleichwege zu flüchten
Am Montagvormittag jedoch lag Nebel über der Region. Flugzeuge konnten deshalb keine Angriffe fliegen, Hubschrauber keinen Nachschub für die Jesiden liefern. Die Bürgerwehr versuchte, so viele Zivilisten wie möglich über Schleichwege in Sicherheit zu bringen. Sie kritisiert, dass eine seit Wochen zugesagte Unterstützung durch die kurdische Peschmerga-Armee ausbleibe. Ein Sprecher der Peschmerga bestätigte das Vorrücken des IS, schwieg aber zu der Frage, weshalb eigene Einheiten nicht eingriffen. Bis zum Montagmittag meldeten Mitglieder der Bürgerwehr, dass zwei Orte - Borik und Dhola - an den IS gefallen seien.
Die aktuelle Lage ist eine Fortsetzung der dramatischen Entwicklungen von Anfang August. Damals begannen IS-Kämpfer ihren Angriff auf die Region, etwa 40.000 Menschen flüchteten aus den Dörfern in die Berge. Die IS-Kämpfer forderten die Jesiden, die sie für "Teufelsanbeter" halten, auf, zum Islam zu konvertieren, zu flüchten oder ein Schutzgeld zu zahlen. Wer sich weigerte, wurde hingerichtet. Tausende Frauen wurden in die vom IS eingenommene irakische Stadt Mossul verschleppt und dort teils als Sexsklavinnen verkauft. Noch immer befinden sich mehrere Tausend Frauen, Jesidinnen, aber auch Christinnen, in IS-Gefangenschaft.
Die Folgen der Belagerung waren damals drastisch. Bei mehr als 40 Grad und ohne ausreichend Wasser und Lebensmittel starben Hunderte Menschen, darunter viele Kinder. Der Hilfeschrei der Jesiden ging um die Welt. Fünf Tage nachdem der IS die jesidischen Dörfer überrollt hatte, beschloss US-Präsident Barack Obama Luftschläge gegen IS-Stellungen.
Diese Angriffe und ein Einschreiten des syrischen Ablegers der PKK machten schließlich den Weg aus den Bergen frei. Nach tagelangem Ausharren in den Höhen flüchteten die meisten Menschen über diesen Korridor, nur die Bürgerwehr blieb.
Doch die Dörfer in der Region sind immer noch unter IS-Kontrolle, die Bewohner trauen sich nicht zurück in ihre Häuser. In vielen Gebieten verbreiteten die Islamisten Angst und Schrecken. Tausende Jesiden sahen daher keine Alternative und kehrten zurück in die Berge. Jetzt sitzen sie dort in der Falle.
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Verzweifelte Lage im Gebirge: Tausende Jesiden harren in den Sindschar-Bergen aus. Sie sind inzwischen von den Kämpfern des "Islamischen Staats" (IS) umzingelt - und die Dschihadisten rücken vor.
Die Eskalation ist eine Fortsetzung der Entwicklung von Anfang August: Damals waren Hunderte eingeschlossene Menschen gestorben. Das Leid der Jesiden brachte schließlich die USA dazu, mit Luftangriffen einzuschreiten. Zehntausende Mitglieder der Jesiden-Minderheit flohen draraufhin aus ihrer Heimat.
Ein Hubschrauber landet auf der "USS George H. W. Bush" (Archivbild): Von hier starteten auch die Spezialeinheiten und Kampfflugzeuge der USA. Ihre Angriffe, ebenso wie das Einschreiten des syrischen Ablegers der PKK, trieben den IS erst einmal zurück.
Packen für die humanitären Hilfslieferungen (Archivbild): Mit Nahrung und Wasser wurden die Jesiden aus der Luft versorgt, dazu kamen die Abwürfe von Munition aus der Luft.
Wie sich jetzt zeigt, harren noch immer Tausende Jesiden in den kargen Bergen aus. Teils, weil sie die wichtigen Kulturgüter der Region verteidigen wollen. Teils aber auch, weil die Angriffe der USA im August zwar den Weg aus dem Gebirge freigemacht hatten, in ihre Dörfer konnten die Jesiden aber nicht zurück, denn dort herrscht noch immer der IS. Viele Menschen mussten daher in die Berge zurückkehren - dort sitzen sie nun in der Falle.
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