Mütter appellieren an ihre Dschihadisten-Söhne "Wir wollen, dass ihr lebt"

Rakka in Syrien: Gottesfürchtiges Leben beim IS?
Foto: STRINGER/ REUTERSDezember 2013, die Eltern des Belgiers Sabri Ben Ali bekommen einen Anruf. Ein Syrer ist am Telefon. "Mein Beileid. Ihr Sohn wurde verletzt. Er ist gefallen auf dem Pfade Allahs. Seien Sie stolz auf ihn", sagt der Unbekannte und legt auf. Eine 20-Sekunden-Nachricht, die das Leben einer Familie erschüttert.
"Wie? Was? Wo? Was ist passiert? Wir haben sofort versucht zurückzurufen, zigmal, aber niemand ging mehr ran", erzählte die Mutter des Toten, Saliha Ben Ali, dem französischen Radiosender France Inter.
Saliha Ben Ali hat inzwischen in Belgien ein Netzwerk von Müttern gegründet, die sich gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) wehren, die ihre Kinder nach Syrien lockt.
Ihr Vorbild macht Schule. Die kleine, neugegründete Organisation "German Institute on Radicalization and Deradicalization Studies" (GIRDS) hat mit Ben Ali und anderen Müttern aus insgesamt sieben Ländern ein internationales Netzwerk geknüpft, "Mothers for Life ". In einem am Mittwoch veröffentlichten vierseitigen Brief appellieren sie an ihre Kinder, zurückzukommen.
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"Wir wollen, dass ihr lebt"
"Jemand hat euch gesagt, dass ein anderes Leben nach diesem, unserem gemeinsamen, wichtiger und wertvoller ist als das Leben mit eurer Mutter", heißt es in dem Brief. "Wir wollten nicht, dass ihr uns verlasst. Wir wollen, dass ihr zurückkehrt. Wir wollen, dass ihr lebt."
Die Mütter stammten aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Dänemark, Schweden, Kanada und den USA, sagt Daniel Köhler, der GIRDS ins Leben gerufen hat. Jede der Mütter habe einen Sohn oder eine Tochter, die zum IS nach Syrien oder in den Irak ausgereist sei.
In dem Brief appellieren die Mütter auch an die religiösen Gefühle ihrer Kinder: "Erinnert euch doch an den Propheten Mohammed, der sagte: 'Das Paradies liegt zu Füßen deiner Mutter'."
Der IS ködert junge Menschen mit Propaganda und Versprechungen. Etwa mit der Aussicht auf ein scheinbar bequemes, gottgefälliges Leben im Kalifat in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten.
Mit der Realität hat das wenig zu tun: Syrien und der Irak sind Kriegsgebiete; der IS ist eine brutale Miliz, die sich mit Diebstahl und Mord finanziert. Er missbraucht die jungen Männer als Kanonenfutter. Wer es sich vor Ort anders überlegt, darf nicht mehr ausreisen. Deserteuren, die erwischt werden, droht Folter oder sogar Tod.
Die Mütter fühlen sich von den Behörden alleingelassen
Viele Eltern sind komplett überrascht, wenn ihre Kinder plötzlich verschwinden und sich aus Syrien wieder melden. Es gab bereits spektakuläre Fälle von Vätern, die versuchten, ihre Kinder wieder aus Syrien zurückzuholen, und selbst zu den Dschihadisten reisten, weil sie sich nicht anders zu helfen wussten.
In dem Brief machen die Mütter auch den Behörden Vorwürfe. "Wir wurden angelogen, ohne Hilfe alleingelassen, und manchmal war es für unsere Kinder nur möglich, uns zu verlassen, weil einige von euch weggeschaut haben."
In den Niederlanden läuft derzeit ein erster Prozess: Mehrere Eltern haben Klage eingereicht gegen den Staat, weil er die Ausreise ihrer Kinder nach Syrien nicht verhindert hatte, etwa durch den Entzug ihrer Reisepässe. Dabei hatten die Eltern selbst die Behörden rechtzeitig über die Ausreisepläne ihrer Kinder gewarnt.
Der "Islamische Staat" stellt die europäischen Behörden vor eine bisher ungekannte Herausforderung. Tausende Europäer sind bereits nach Syrien ausgereist, mehr als in sämtlichen vergleichbaren Bürgerkriegen in Afghanistan, im Irak oder in Bosnien zusammen.
Aus Deutschland sind inzwischen über 650 Frauen und Männer nach Syrien abgewandert, rund 200 von ihnen kehrten zurück. Auch dies stellt das Land vor neue Probleme: Diese Personen werden aufwendig überwacht. Schließlich ist in vielen Fällen unklar, wer desillusioniert heimkehrte und in sein altes Leben zurück will - oder wer möglicherweise Anschläge plant .