Westliche Welt Die Rückkehr der Gewalt

Krieg und Anschläge überall: Ob Irak oder Syrien, Ottawa oder die Krim: Die westliche Welt schaut betreten zu, mit zweifelndem Blick auf die eigenen Sicherheitsvorkehrungen. Eine neue Zeit beginnt.
Von Klaus Segbers
Polizisten nach dem Anschlag in Ottawa: Konflikte entgleisen - wir sind hilflos

Polizisten nach dem Anschlag in Ottawa: Konflikte entgleisen - wir sind hilflos

Foto: BLAIR GABLE/ REUTERS

Der Zweite Weltkrieg war mit Ausnahme der jugoslawischen Zerfallskriege der letzte große militärische Konflikt in Europa. Es folgte die gespannte Stabilität des Kalten Krieges. Zugleich entwickelte sich und wuchs die Europäische Union - die größte Erfolgsgeschichte Europas bis heute, trotz Eurokrise und Flüchtlingsdramen.

Sie vor allem trug dazu bei, dass ein bewaffneter Konflikt im Kern Europas, und auch an seinen Rändern, kaum mehr vorstellbar war. Die jüngeren Generationen verzehrten nach 1990 die Friedensdividenden, ohne es recht zu wissen. Und die älteren Europäer gewöhnten sich an einen Frieden, der allenfalls, seit 1998, durch Bilder von weitgehend sinnvollen Außeneinsätzen der Bundeswehr mitunter irritiert wurde.

Das alles ändert sich nun, vor unseren Augen. Und wir wirken nicht nur hilflos, wir sind es auch.

Das ist die Bilanz:

  • Mit Afghanistan und Pakistan liegen zwei Krisenstaaten in nicht allzu großer Ferne, einer davon mit Nuklearwaffen, für die sich auch die Taliban neuerdings interessieren.
  • Die staatlichen Gebilde in Irak, Libyen, Syrien, Jemen sind gescheitert. Stattdessen erhebt sich ein mörderisches Kalifat mit dem Namen "Islamischer Staat" (IS), das über Morde, Massenvergewaltigungen, Versklavungen und kommunikativ geschickt inszenierte Enthauptungen seine bedrohlichen Signale sendet.
  • Indische und Pakistanische Truppen schießen in Kaschmir wieder aufeinander.
  • Die Beziehungen zwischen China und Japan sind gespannt, nicht nur wegen einer kleinen Inselgruppe in der Ostchinesischen See. China streitet ebenso mit Vietnam, Brunei, den Philippinen und Taiwan um Riffs und Felsen in der Südchinesischen See

All diese Konflikte sind nicht nur latent. Jeder von ihnen kann auch durch Fehlwahrnehmungen oder falsche Signale entgleisen. Ebola, wenig regulierte Kapitalströme und Migrantenbewegungen treten hinzu. Die Liste ist nicht vollständig. Unsere Politik, aber auch wir BürgerInnen sind überfordert. All das betrachten Europäer mit Sorge - und Hilflosigkeit. Denn es gibt kein Patentrezept.

Doch es ist der aktuelle Konflikt im Osten Europas, der unsere fast 50 Jahre lang eingeübte Gewaltentwöhnung stört. Zumindest seit dem Bau der Berliner Mauer 1961 und der Kubakrise 1962 war Europa nicht mehr so sehr unmittelbar einer Gewalterfahrung ausgesetzt.

Nichts rechtfertigt die Annexion der Krim

Seit dem Beginn dieses Jahres hat eine kleine Gruppe um den russischen Präsidenten Wladimir Putin beschlossen, sich einseitig und ohne jeden Verhandlungsversuch einen gewichtigen Teil eines anderen europäischen Staates anzueignen - die Krim, die 1956 von der damaligen sowjetischen Führung der Ukraine übergeben wurde.

Warum ignoriert die russische Führung nun die Nato-Russland-Akte von 1997, die der Ukraine territoriale Integrität zusichert? Das bewegt seit fast einem Jahr mindestens ganz Europa. Wie die Gründe auch immer liegen mögen - nichts rechtfertigt die Annexion der Krim, und die grobe Einmischung in der Ostukraine.

Die russische Führung hat mit einer gewaltigen Unterstützung durch die eigene Bevölkerung die europäische Sicherheits-Architektur derart verletzt, dass man sich nicht vorstellen kann, wie diese mit Russland repariert werden sollte.

Putin hat nicht nur mit Gewalt gedroht (und tut das indirekt erneut gegenüber Lettland und Estland) - er hat sie eingesetzt. Alles Lügen und Täuschen kann diesen Sachverhalt nicht verdecken.

Wie reagieren wir darauf?

Bisher vor allem mit Reden. Und mit zögerlichen, späten, halbherzigen Sanktionen. Wir haben kein Rezept, weil wir ein solches Verhalten für ausgeschlossen hielten. Nicht nur unsere Streitkräfte sind längst auf flexible und weit entfernte Einsätze ausgelegt. Auch und vor allem unsere Mentalität enthält nicht mehr die Option einer elementaren Bedrohung, auf die notfalls zu reagieren ist - wenn nötig, mit selbstverteidigender Gewalt. Und das spüren diejenigen, die mit Gewalt nicht nur kalkulieren, sondern sie auch - zunächst erfolgreich - einsetzen. Das beruht auf einem Denken, das geopolitische Wolken schiebt und die Vernetzungen der Globalisierung ignoriert. Also falsches Denken. Aber kurzfristig zumindest ist es wirksam.

Wenn wir verstehen, dass wir künftige Gewaltandrohungen gegenüber Europa mit Reden und Verhandeln nicht sicher abwenden können, müssen wir uns darauf einrichten - jetzt. Und nach außen glaubhaft deutlich machen, dass liberale, plurale und säkulare Gesellschaften auch künftig untereinander keine Gewalt einsetzen, gegen undemokratische Friedensstörer gegebenenfalls aber schon. Entschieden, ohne Vorwarnung und dauerhaft.

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