
IS im Nordirak: Massenflucht vor den Dschihadisten
Vorstoß von "Islamischer Staat" im Nordirak Dschihadisten drohen Kurden mit Terrorherrschaft
Die Entscheidung des irakischen Premierministers Nuri al-Maliki kam überraschend. Am Montag wies er erstmals die Luftwaffe an, die kurdischen Peschmerga-Einheiten im Kampf gegen die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) zu unterstützen. Bislang hatte Maliki den Kurden bei jeder Gelegenheit vorgeworfen, den Vormarsch der Extremisten für die eigenen Zwecke zu nutzen. Für einen eigenen Kurdenstaat im Norden - vielleicht sogar in Kooperation mit IS.
Doch die Ereignisse vom Wochenende haben ihn offenbar umgestimmt. Gleich mehrere Städte wurden von den Dschihadisten überrannt. Sie haben die Kontrolle über zwei Ölfelder und den größten Staudamm des Landes, die Mossul-Talsperre, übernommen. Berauscht von diesen Erfolgen kündigten sie an, ihre Herrschaft nun auf das gesamte autonome Kurdengebiet im Nordirak auszuweiten. "Mit Hilfe von Allah, dem Allmächtigen, werden wir die ganze Region befreien", so die Ansage.
Das Vorgehen ist immer das gleiche: Erst erobern sie einen Ort. Sofort hissen sie dort ihre schwarzen Flaggen mit dem weißen Schriftzug, um deutlich zu machen, dass sie nun das Sagen haben. Anschließend fordern die Kämpfer die Bevölkerung auf, sich IS unterzuordnen. Alles andere dulde man nicht. Jedem Widerständler droht der Tod.
Sich der IS-Miliz unterzuordnen bedeutet: Jeder Bürger muss sich zur radikalen Auslegung des sunnitischen Islams bekennen. Wer das nicht tut, hat zwei Möglichkeiten: Flucht oder Tod. Es traf bereits Christen, am Wochenende die kurdische Minderheit der Jesiden, aber auch immer wieder Sunniten, die sich der ebenfalls sunnitischen IS nicht anpassen wollten.
Erobern, hinrichten, filmen, prahlen
Ihr nächster Schritt: Die Kämpfer filmen Hinrichtungen, veröffentlichen ihre Videos im Internet und brüsten sich mit ihrer Grausamkeit. Damit setzen sie ein Signal, dass sie es ernst meinen. Wir sind zu allem bereit - so die Botschaft. Die Einnahme weiterer Regionen wird damit umso einfacher, aus Furcht leistet kaum jemand noch Widerstand.
Auch die jüngste Offensive verlief nach diesem Muster. Erst nahm die Miliz die nordirakischen Städte Sindschar und Samar ein, die bislang von kurdischen Kämpfern kontrolliert wurden. Anschließend zwangen sie die dort lebenden Jesiden, zu konvertieren oder zu flüchten. Und schließlich tauchten im Internet Bilder von Exekutionen auf. Augenzeugen berichteten am Montag von 67 hingerichteten Männern, kurdische Medien sogar von 88 und noch mehr Getöteten.
Auch wenn Peschmerga-Kämpfer bis Dienstag Teile der Gebiete zurückerobern konnten, verschärft der Vormarsch der Dschihadisten im Norden die Flüchtlingssituation. Mehr als 200.000 Menschen suchen nach Angaben der Uno Schutz in den umliegenden Bergen. "Sie sind ohne Essen und Wasser, einige sind schon gestorben", sagte Chodr Domli, der in der kurdischen Stadt Dohuk für die Rechte der Jesiden eintritt. Den IS-Kämpfern warf er gegen Jesiden gerichtete "ethnische Säuberungen" vor.
Der Uno-Sondergesandte für den Irak, Nickolay Mladenov, sprach von einer "humanitären Tragödie" in Sindschar. Man müsse sich "ernste Sorgen" um die Sicherheit der Menschen machen. Die Kurdisch sprechende religiöse Minderheit wird von den Dschihadisten als "Teufelsanbeter" verfolgt.
Nun reagiert der Irak. Malikis Anordnung von Luftschlägen kann man aber auch als Eingeständnis werten. Möglicherweise bereut er, die Kurden nicht frühzeitig im Kampf gegen die Islamisten unterstützt zu haben. Selbst die USA haben die Lage im Irak trotz jahrelanger militärischer Präsenz falsch eingeschätzt. Lange war Washington der Ansicht, dass die Kurden mit ihren Forderungen nach mehr Autonomie eine größere Gefahr für die Stabilität des Irak darstellen als IS.
Parlament will neuen Premier bestimmen
Die USA haben deshalb bislang Ölexporte aus den kurdischen Regionen blockiert und Waffenverkäufe an die Kurden unterbunden. Für eine Kurswechsel gibt es keine Anzeichen. Als eine kurdische Delegation zuletzt auf das Recht beharrte, Öl verkaufen zu dürfen, lehnte Washington ab. Eine Pipeline, die ins türkische Ceyhan führt, wurde am 2. Mai in Betrieb genommen. Aber unter Druck der USA kauft die Türkei kein Öl von den Kurden im Irak. Auch lehnt es die Regierung von US-Präsident Barack Obama weiterhin ab, die Peschmerga-Milizen mit Waffen zu unterstützen.
Um die Krise in den Griff zu bekommen, wollte das irakische Parlament am heutigen Dienstag einen neuen Regierungschef bestimmen. Maliki möchte weiter im Amt bleiben, doch sunnitische und kurdische Politiker fordern seine Ablösung. Die Parteien und die religiösen Gruppierungen sind zerstritten, eine Einigung auf einen neuen Premier gilt als unwahrscheinlich. Irakische Medien meldeten, die Abgeordneten hätten ihre Sitzung auf Donnerstag vertagt.
Doch bevor die Regierungskrise nicht beendet ist, wird auch keine überzeugende Antwort auf die Dschihadisten zu finden sein.